Beim Griechen am Nachbartisch steht eine, die von Pillen und Wodka schwärmt und mich an eine Mitpatientin aus der Suchtklinik erinnert.
Nach langem Bürotag stochere ich in einer Stimmungsmelange zwischen Heute-gehe-ich-früh- ins-Bett und Was-bin-ich-doch-für-ein-langweiliger- Spießer-geworden in einer Moussaka, die in einem Meer Béchamelsauce schwimmt, als ich plötzlich ein Paar am Nachbarstehtisch bemerke. Er Typ Macho- Kasache in blütenweißem Trainingsanzug und knallorangen Sportschuhen. Dickgliedrige Goldkette um den Hals; ärmelloses T-Shirt. Rechts vom Schulterblatt bis zur Daumenwurzel tätowiert. Sie erinnert mich an eine Junkiebraut, mit der ich früher mal abgehangen habe. Spindeldürre Beine, die in einer knallengen Jeans stecken. Leicht aufgeblähter Bauch wie bei einer mühsam unter Kontrolle gehaltenen Leberzirrhose.
Susanne aus dem Methadonprogramm?
„Mir macht der neue Job Spaß“, sagt sie.
„Hm“, brummt er und schaufelt sich hundert Gramm Pommes Frites auf einmal rein.
„Seit vorgestern kümmere ich mich um einen Motorradfahrer.“
„Gib mal Ketchup!“
„Der war vor ein paar Wochen mit zweihundert Sachen in die Leitplanke geknallt. Drei Dutzend Knochenbrüche. Linker Fuß musste beinahe amputiert werden.“
„Der Gyros schmeckt heute öde. Probier mal!“
„Der Kerl hatte unverschämtes Schwein. Sie haben ihm eine halbe Arschbacke entfernt und unten wieder dran genäht.“
„Das funktioniert? Habe ich noch nie gehört.“
„Keine Ahnung. Bin keine Krankenschwester. Füttere ihn bloß.“
„Der Job wird Scheiße bezahlt. Warum suchst du dir nicht was anderes?“
„Du bist lustig. Bei meinem Vorleben. Wer soll mich da einstellen?“
Ob sie doch Susanne ist, mit der ich vor ein paar Jahren um die Häuser gezogen bin? Die mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks zwischen Methadonprogramm, Rückfällen und Straßenstrich pendelte? Kluges Mädchen mit abgeschlossenem Germanistikstudium. Aufgrund Mega-Liebeskummers Mitte zwanzig völlig aus der Bahn geworfen und seitdem noch häufiger Gast in der Suchtklinik gewesen als ich. War ich mit ihr in der Kiste? Eher nein. Zumindest hätte das Erlebnis keine bleibenden Eindrücke bei mir hinterlassen. Das letzte Mal gesehen haben wir uns auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Sie bettelte, ich sah ihr dabei zu und trank Wodka.
„Und die Pillenvorräte bei dem zu Hause: Unglaublich“
Der Kasache hat Recht: auch mein Hackfleischauflauf schmeckt fad.
„Haben Sie Tabasco?“, frage ich.
Der sich als Grieche ausgebende Inder reicht mir wortlos eine rote Paste. Ich rühre die Hälfte davon in mein Abendessen hinein.
„Und die Pillen- und Alkoholvorräte bei dem zu Hause. Unglaublich“, sagt sie.
„Kannst du was abzweigen?“, will er wissen.
„Wenn sie mich erwischen, bin ich den Job sofort los. Sechs Monate Probezeit.“
„Der ist eh Kacke. Niemand dankt dir die Schufterei.“
„Klugscheißer. Hast du was Besseres für mich?“
„Im Moment nicht. Überlege noch.“
„Also kein Plan … bis dir was einfällt, werde ich weiter im Pflegedienst arbeiten. Ist eine krisensichere
Sache. Gibt immer mehr Alte.“
„Stimmt auch wieder.“
Ich schaue ihr kurz ins Gesicht. Sie lächelt, zeigt dabei ihre Zähne. Kleine, spitze Dinger wie bei einem Reptil. So als ob sie nachträglich abgeschliffen wurden. Hatte Susanne so ein Gebiss? Über ihre Klapperschlangenzunge hatten wir im Aufenthaltsraum oft gescherzt. Sehe ihr Bild bloß noch verschwommen vor meinem geistigen Auge.
Ich klettere vom Hocker, lasse die Hälfte der Moussaka stehen, lege zehn Euro auf den Tresen und verlasse den Laden. Vernünftiger, keine unnützen Gedanken an die Vergangenheit zu verschwenden. Es regnet. Ich schlage den Kragen der Jacke hoch und haste nach Hause. Werde eine halbe Stunde durchs TV zappen, mich dann aufs Ohr hauen. Es gibt Phasen im Leben, da ist Spießertum ganz gesund.
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