Glaskastenspiel

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Von 4 runter auf 1.5 Promille kommen, bis es die ersten Pillen gibt: jedes Mal aufs Neue ne anstrengende Übung.

»Du bist wirklich unverbesserlich, Henning. Das ist dir klar?«
»Leck mich!«
»Wie oft bist du in diesem Jahr bereits in der Klinik gestrandet? Acht oder zehn Mal? Und wir haben noch drei Monate bis Weihnachten. Da kann einiges passieren.«
»Hör auf damit! Oder ich hau dir aufs Ohr.«
»Mich stört es nicht, dass du aggressiv bist. Selbst Schuld.«
»Rolf!!« Mit letzter Kraft stand ich auf, packte ihn am Kragen und schüttelte den ewig klugscheißenden Ex- Anwalt. »Stopp es! Sonst garantiere ich für nichts.«
»Du lässt dir nie was sagen. Das wird noch dein Untergang sein. Falls du zur Vernunft kommen solltest und reden möchtest, weißt du, wo ich zu finden bin. Ich bleibe trotzdem dein Freund.«
»Rolf!!!« Mein Blick schien so blutrünstig zu sein, dass sich der 120-Kilo-Mann tatsächlich aus dem Zimmer entfernte. Nicht, ohne sich im Türrahmen nochmals umzudrehen und missbilligend den Kopf zu schütteln. Der alte Pharisäer. Ich mochte ihn trotzdem, weil er sich stets hilfsbereit zeigte. Wenn er nur nicht so geschwätzig gewesen wäre.

Spinnen, die von der Decke runterkrabbeln

Entkräftet sank ich wieder auf den klapprigen Holzstuhl und stierte an die weiße Wand. Von der Decke krabbelten plötzlich Spinnen runter. Zehn … hundert … tausend. Bevor sie den Boden erreichten, zerstoben sie und lösten sich in Staub auf. Schon zig Mal gesehen, dachte ich. Bloß Hirngespinste meiner überreizten Sinne. Mir brach der Schweiß aus, das Hemd klebte am Körper, als ob ich gerade damit gebadet hätte. Würgefühl. Grüne Galle stieg nach oben, blieb jedoch auf der Hälfte der Speiseröhre stecken und verursachte einen zweiminütigen Hustenanfall. Die Phase des Abkochens war die schlimmste. Stundenlanges Warten bis die magische Schwelle von 1.5 Promille endlich erreicht war. Vorher gab’s keine Entzugspillen. Angeblich zu gefährlich, die bei höherer Umdrehungszahl zu verabreichen. Bei manchem armen Schwein wurde vom Aufnahmearzt 1.0 in die Akte eingetragen. Da hieß es immer höllisch aufpassen. Und wenn ich bei meiner Ankunft zu keinem verständlichen Satz mehr fähig war, »1.5« ging immer.

Neben mir ein Kasten Wasser. Zwanzig 0.5l- Plastikpullen. Medium. Die Hälfte hatte ich bereits geext. Gleich würde ich mir ein belegtes Brötchen besorgen. Es in mich reinzwingen, in hohem Bogen ausspucken, den zweiten Versuch unternehmen. So lange, bis es drinblieb. Je mehr ich trank und feste Nahrung zu mir nahm, desto schneller würde mein Spiegel absinken. 0.3 in der Stunde waren mit dieser Methode machbar. Ich hatte mittags mit 3.96 eingecheckt. Punktlandung. Ab 4 musste der Umweg über die Intensivstation genommen werden. Aus der war ich am Abend zuvor abgehauen. Unfreundlicher Laden, in dem sich die Krankenschwestern über mich lustig gemacht hatten. War eine ziemliche Sauerei gewesen, als ich mir die Schläuche aus den Venen riss, und das Blut munter rumspritzte. Erinnerte mich dunkel an die wütende Ärztin, die mich anschrie, während ich mit zitternden Fingern die Entlasspapiere unterschrieb. Danach hatte ich mir an einer Tankstelle Nachschub besorgt und die Nacht im Park verbracht. Jetzt im September war das noch problemlos möglich. Am Vormittag fasste ich den Entschluss, freiwillig in die Klinik zu gehen. Der Marsch quer durch die Stadt zog sich. Musste mich zwischendurch mehrmals mit Bier und Jägermeister stärken, um nicht auf offener Straße zusammenzuklappen. Und nun saß ich seit fünf Stunden auf einem klapprigen Stuhl und versuchte, nicht in Ohnmacht zu fallen. Der Kreislauf spielte verrückt. Eine Achterbahnfahrt mit Todeslooping war dagegen ein Kinderspiel. »170 zu 120«, hatte der bullige Pfleger vorhin gesagt. »Alles okay«, antwortete ich. »Das ist für Sie okay?« … »Wird sich bis übermorgen schon wieder im Normalbereich einpendeln.« … »Ihren Optimismus möchte ich besitzen.«

Zum Duschen viel zu wackelig auf den Beinen

Jürgen, von allen Klinikangestellten der mieseste Drecksack, betrat den Raum.
»Wie wär’s mit duschen. Sie riechen nicht gut.«
»Wenn Sie mir Valium geben, dann gerne. Sonst schaffe ich das nicht.«
»Hätten Sie halt nicht saufen sollen. Dann bräuchten Sie jetzt nicht rumzujammern.«
»Lassen Sie mich in Ruhe, Sie Idiot!«
»Wie bitte?«
»Soll ich es buchstabieren: I-D-I-O-T.«
»Das wird Konsequenzen haben. Ich informiere umgehend den Oberarzt.«
»Von mir aus. Und nun möchte ich alleine sein.«
Er drehte sich wortlos um, knallte die Tür ins Schloss, und ich hörte, wie er den Gang entlang Richtung Verwaltung hastete.

Die Ärzte in dieser Station mochten mich. Da stand wenig zu befürchten. Vielleicht eine kleine Ermahnung bei der Morgenvisite. Alle wussten, dass Jürgen ein Scheißkerl war, der Patienten beklaute und die Tablettenvergabe ins Endlose hinauszögerte. Ich schlich auf wachsweichen Beinen zum Glaskasten. Schwein gehabt: der Schwerathlet schob noch Dienst. Ich klopfte.
»Was gibt’s?«
»Lassen Sie mich pusten.«
»Schon wieder?«
»Ja.«
»2.4 … nicht schlecht. Wenn Sie so weitermachen, können Sie …«
» … in drei Stunden Pillen erhalten. Rechnen kann ich noch.«

Noch drei Stunden bis zur ersten erlösenden Pille

Drei Stunden sind 180 Minuten, tausende kaugummilanger Sekunden, rumorte es in meinem Kopf, als ich wieder draußen auf dem Korridor stand. In dieser Zeitspanne konnte ich an einer Herzattacke sterben. Mein Pulsschlag musste sich den 200 nähern. Wäre nicht der Erste, den sie auf einer Bahre hier raustrügen. In den Schläfen pochte es, als ob dort gerade eine Presslufthammerparty stattfand. Ich werde jetzt das Experiment mit dem Brötchen starten, überlegte ich und bog Richtung Essensraum ab.

»Na, Henning. Wieder hier … sahst schon mal frischer aus.« Eine teerschwarze Frauenstimme erklang von links, und eine kräftige Hand umklammerte meinen Unterarm.

Bild von: Sonyworld auf pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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