Die explosive Kirschtorte (3)

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In Teil 3 kommt’s bei Kalle zu ner Explosion, und er verlässt fluchtartig die Gruppe. Kurz danach falle ich in der Bahnhofskneipe aus allen Wolken.

»Apropos Kaffeekränzchen – ich habe mir gestern ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte gegönnt.«

Karl-Heinz strahlte wie ein kleiner Junge übers ganze Gesicht.
»Du weißt, dass da Alkohol drin ist?«, fragte lauernd Margot, während sie gleichzeitig die dritte Tafel Nougatschokolade innerhalb der Zeitspanne einer knappen Stunde in ihren gierigen Mund hineinstopfte.
»Aber doch nur in winzigen Mengen. Da merkt man überhaupt nichts von. Meiner Meinung nach völlig ungefährlich«, verteidigte sich Kalle.
»Von wegen«, ereiferte sich Lothar, der ein neues Empörungsthema entdeckt hatte.

Wer gegen den Nicht-Trink-Kodex verstößt, hat immer miese Karten

Das Thema Alkohol in Lebensmitteln war seit jeher ein heiß umkämpftes. Hier spalteten sich die Teilnehmer in zwei scharf voneinander abgegrenzte Lager: die Orthodoxen, die jedes Produkt penibel daraufhin untersuchten, ob eventuell ein Nanogramm Äthanol darin enthalten sein könnte und die Liberalen, denen das ziemlich egal war. Ich persönlich vertrat die Auffassung, dass jeder für sich selbst entscheiden sollte, ob eine Kirschtorte oder ein Champagnertrüffel für ihn ein Problem darstellte. Die Rechtgläubigen sahen das anders und bezichtigten jeden, der mit Odol gurgelte oder zu Weihnachten klebrige Pralinés verspeiste, sofort des Verrats an der heiligen Sache der lebenslangen Abstinenz. Die beiden Auffassungen ließen sich erfahrungsgemäß nicht unter einen Hut bringen und erhitzten unnötigerweise und ohne zufriedenstellendes Ergebnis die Gemüter. Deshalb war es vernünftig, die Sache nur dann aufs Tapet zu bringen, wenn sie unvermeidbar erschien.

»Kalle rafft es einfach nicht. Sie werden ihn gleich ordentlich in die Mangel nehmen«, zischte ich leise durch die Zähne.
»Er ist halt dumm. Siehst du ihm doch an der Nasenspitze an«, kicherte Rolf.

»Karl-Heinz, ich frage mich ernsthaft, ob du den Ernst deiner aktuellen Situation richtig einschätzt«, eröffnete Regina das Sperrfeuer auf den nichtsahnenden Lokomotivführer.
»Du wirst vom Dienst suspendiert, absolvierst seit Monaten eine Therapie. Wirst täglich darauf hingewiesen, dass jeder Tropfen einen Rückfall auslösen kann, und trotzdem begibst du dich wissentlich in Gefahr. Das kann ich ganz und gar nicht gutheißen«, fuhr sie mit ihrer Philippika fort.
»Nun mal halblang, Lady. Ich kann schon selber auf mich aufpassen. Ein Stück Torte haut einen Anderthalbzentner-Mann wie mich nicht um. Ich vertrage ja abends auch eine Flasche Bitburger vor dem Schlafengehen. Alles halb so wild.«
»Ich höre wohl nicht richtig? Du trinkst Bier?? Das darf doch nicht wahr sein!« Angelika verlor für einen kurzen Moment die Fassung, derweil sich auf der milchig-weißen Haut ihres Dekolletés kleine rote Flecken bildeten.
»Von Krankheitseinsicht als erstem Schritt zur Genesung hast du vermutlich noch nie was gehört?«, trompetete Margot aus mit Luft und Nougatschokolade aufgepumpten Backen. Ihr dicker Hals schwabbelte dabei ganz fürchterlich. Die Sache mit der Krankheitseinsicht lag ihr sehr am Herzen. Sie konnte darüber stundenlang referieren.

Kalle explodiert und verlässt fluchtartig die Gruppe

»Ich bin nicht krank«, versuchte Kalle, sich zur Wehr zu setzen.
»Sondern?«
»Ich hatte eine schlechte Phase im vergangenen Jahr nach dem Unfall in Troisdorf. Scheint mir normal zu sein. Wäre euch ebenso gegangen.«
»Mag durchaus sein«, überlegte Lars laut. »Jedoch haben wir erkannt, dass unser übermäßiges Trinken krankhaft ist. Und nicht auf einen einzigen Grund oder Auslöser geschoben werden kann. Das ist der wesentliche Unterschied zu deiner Auffassung.«
»Mir völlig wurscht, wie ihr darüber denkt. Ich mache es so, wie ich es für richtig halte. Mit dieser Einstellung bin ich immer gut gefahren.«

»So lange du nicht mehr am Steuerpult einer Lok sitzt und unschuldige Spaziergänger totfährst, ist alles okay für mich«, lästerte Rolf.
»Das hast du alter Spritkopf überhaupt nicht zu entscheiden.«
»Das stimmt«, lächelte Rolf böse. »Aber die Psychologin und dein Boss werden es gar nicht gerne hören, dass du derart beratungsresistent auftrittst.«
»Willst du mir etwa drohen?« Kalles ohnehin nicht gerade sympathische Mimik entglitt derart, dass seine Gesichtszüge einige Sekunden lang den Ausdruck einer gotischen Dämonenfratze, wie man sie am Nordportal des Kölner Doms bestaunen kann, annahmen.
»Mach es nicht schlimmer, als es ohnehin schon ist.« Ich stieß Rolf meinen rechten Arm in die Rippen.

»Ich würde vorschlagen, dass wir das Thema für heute beenden«, meldete ich mich zu Wort. »Karl-Heinz wird sich bis zum nächsten Mal die Frage stellen, ob er mit seinem aktuellen Trinkverhalten in einer Alkoholikergruppe richtig aufgehoben ist. Nützt ja nichts, wenn wir alle auf ihm rumhacken. Er muss selbst entscheiden, was für ihn der vernünftigste Weg ist.«
»Der Oberdiplomat hat gesprochen«, giftete Rolf, der mir meinen Ellbogencheck anscheinend übelnahm.

»Was soll der Kerl bei uns? Der gehört hier nicht hin. Von mir aus braucht er nicht wiederzukommen. Mit seiner laschen Einstellung stellt er eine Gefahr für sich und die labilen Gruppenmitglieder dar.« Lothar regte sich mit hochrotem Kopf immer noch auf und schaute Beifall heischend von links nach rechts. Allerdings applaudierte ihm niemand, einige blickten sogar beschämt nach unten auf den Boden.

Bevor Margot, die sich in diesen entscheidenden Minuten merkwürdig passiv verhielt und damit ihrer Funktion als Moderatorin in keiner Weise gerecht wurde, energisch einschreiten konnte, sprang Kalle zornbebend von seinem Stuhl auf, pfefferte eine Handvoll Erdnussflips auf den zerschlissenen Teppich, wo er sie mit der linken Schuhsohle zermahlte und schrie: »Ihr könnt mich alle kreuzweise. Mich seht ihr nie mehr wieder.« Daraufhin stürmte er zur Tür, knallte sie wütend hinter sich zu und lief schnurstracks zur Tankstelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo er sich mit einigen Dosen Bier eindeckte.

»Bravo. Das habt ihr super hinbekommen«, rief ich in Richtung Lothar und Rolf.
»Was ein kleines Stück Kirschtorte mitunter für Explosionen auslösen kann«, räsonierte der stille Lars und sprach damit das Schlusswort für den heutigen Abend.

In der Bahnhofsgaststätte falle ich aus allen Wolken

Die knarzigen Lautsprecher auf Gleis 3 kündigten eine zwanzigminütige Verspätung für RE62 in Richtung Bonn an. Nichts Ungewöhnliches auf diesem Abschnitt der rechtsrheinischen Trasse. »Mir ist es zu kalt auf dem windigen Bahnsteig. Ich wärme mich in der Zwischenzeit in der Gaststätte auf. Kommst du mit, Henning? Ich lade dich auf ein Getränk ein.« Rolf war wieder guter Stimmung und pfiff vergnügt einen alten Schlager aus den 60-ern vor sich hin.

»Was trinkst du?«
»Eine Cola Zero.«
»Typisch Henning. Immer besorgt um seine schlanke Linie. Na ja, wir haben alle unsere Marotten. Schmecken tut die braune Brühe ja bestimmt nicht.«
»Alles eine Sache der Gewöhnung. Ich mag das Zeug ganz gerne.«

Rolf gab in gedämpftem Tonfall seine Bestellung auf, während ich mir vor der Garderobe die dort ausliegende Sportzeitung besorgte. Als ich zurückkehrte, hielt er fröhlich ein Schnapsglas in der Rechten.
»Was tust du da?«, fragte ich ihn entgeistert.
»Na was wohl? Ich genehmige mir einen kleinen Absacker. Den habe ich mir nach der Gruselstunde redlich verdient.«
»Was unterscheidet dich dann von Kalle?«
»Ich sag’s nicht gerne: die Intelligenz.«
»Verstehe ich nicht.«
»Er säuft und quatscht darüber. Ich hingegen schweige.« Rolf ließ den Wodka in einem Schluck die Kehle runterlaufen und bestellte sich einen zweiten.
»Zudem habe ich die Sache im Griff.«

»Du spielst also die Rolle des Drogenfahnders, der selber an der Nadel hängt? Von mir aus. Das ist deine Angelegenheit. Mein’s ist es nicht.«

Ich ließ die Cola unangerührt auf dem Tresen stehen, drehte mich um und verließ wortlos das Lokal. Draußen auf dem zugigen Bahnsteig wusste ich nicht, wer mir an diesem Abend unsympathischer gewesen war: Rolf oder Kalle?
Auf der Heimfahrt mied ich Rolf und setzte mich in einen anderen Waggon. Vielleicht sollte ich von der Donnerstag- in die Mittwochgruppe wechseln, überlegte ich. Auf jeden Fall würde ich mich in meiner Wohnung gleich vor die Tastatur setzen und schreiben. Das war für mich die beste Ablenkung.

Hier geht’s zu Teil 2.
Und hier geht’s zu Teil 1.

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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