Tagebuch 25. Dezember

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An den Weihnachtstagen werden auch Nicht-Romantiker wie ich nostalgisch. Ich fahre dann auf den Poppelsdorfer Friedhof, stelle ein kleines Blumengesteck aufs Grab meiner Eltern und denke über so Sachen nach wie: Das Beste, was ich für meine Mutter tun konnte, war es, sie zu überleben.

Tagebuch 25. Dezember

An den Weihnachtstagen werden auch Nicht-Romantiker wie ich nostalgisch. Ich fahre dann auf den Poppelsdorfer Friedhof, stelle ein kleines Blumengesteck aufs Grab meiner Eltern und denke über so Sachen nach wie: Das Beste, was ich für meine Mutter tun konnte, war es, sie zu überleben. Das war vor zehn Jahren noch nicht zu 100 Prozent ausgemacht, und sie hätte sich sicher sehr gegrämt, wenn ihr Sohn vor ihr unserem Schöpfer begegnet wäre. Fürs Überleben benötigt man keine Anerkennung. Es ist einfach geschehen. Obwohl es mich noch heute froh stimmt, dass sie mich nicht hat sterben sehen. Denn sowas bricht ein Mutterherz, egal wie alt die Mutter in diesem Moment auch sein mag.

Ich denke an einem rheinisch-winterlichen Weihnachtstag, an dem mir der Regen hinten in den Kragen läuft und die feuchte Kälte von den Schuhsohlen aus meine Beine hochkriecht, auch daran, dass ich wahrscheinlich zu wenig für sie getan habe. Ich hätte, als sie alleine ohne meinen Vater war, mehr mit ihr reden und sie häufiger in ihrem Altersheim besuchen sollen. Aber in dieser Zeit war ich sehr mit mir selbst beschäftigt und vor allem deprimierte mich ihr stetiger Verfall zu stark, als dass ich mir das allzu oft hätte ansehen wollen. Heute tut mir das leid, ich sage ihr das auch leise auf dem Friedhof; aber ob sie das hören kann – wer weiß das schon? Die Vorstellung, dass uns die verstorbenen Eltern von oben zuschauen und sich darüber freuen, wenn wir hin und wieder an ihrem Grab stehen, hat zwar was Tröstliches, scheint mir jedoch eher Wunschglaube als Realität zu sein.

Ich hätte sie gerne so sehr geliebt, wie sie mich geliebt hat. Aber das entspräche nicht der biologischen Wirklichkeit, in der die Mutterliebe die stärkste von allen ist. Ich spüre das mitunter ansatzweise bei meinen eigenen Kindern, wenngleich Vaterliebe schon aufgrund des Umstands, dass man als Mann nicht gerne über sowas spricht, wahrscheinlich wieder was anderes ist. Und Väter, vor allem wenn sie in Köln aufgewachsen sind, lieben auch so abstruse Dinge wie den Effzeh, worüber sie interessanterweise freier reden können als über die andere Liebe.

Ich bin auf jeden Fall oft erleichtert, sobald Weihnachten vorbei ist, ich nicht mehr über so gefühlsduselige Dinge wie die Liebe nachzudenken brauche und weiß sowieso, dass mein Herz nie so groß sein wird wie das meiner Mutter.
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Bild von waldryano auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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