Der liebeskranke Nachbar

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Ich bin sehr durstig, mein Nachbar braucht dringend ein Gedicht und ködert mich mit ner Pulle Wodka. Lila kitzelt 50 Euro aus ihm raus und will ab sofort meine Agentin sein.

»Du schreibst doch ganz nette Gedichte, Henning?« Jobst saß breitbeinig und unrasiert vor mir. Während er sprach, schlug mir schlechter Atem aus seiner mit braunen Zahnstummeln gespickten Mundhöhle entgegen. Um mich in Versuchung zu führen, wiegte er eine Flasche Discount-Wodka wie ein Baby in seinen Bauarbeiterpfoten. Ich starrte kurz auf lange Fingernägel, unter denen sich schwarze Ränder abbildeten und kontrollierte verstohlen meine eigenen Hände.
»Was willst du von mir? Und rede um Gotteswillen leiser. Mir platzt gleich der Schädel, wenn du so weiter schreist.«
»Tja, das traurige Los des Säufers: Am Morgen danach peinigt einen der Katzenjammer.« Mein Gegenüber grinste und beförderte einen kleinen gelben Frühstücksrest unter seiner Zunge hervor, den er träumerisch zu einer Kugel verformte, bevor er ihn aus dem geöffneten Fenster schnippte.

Der erste Schluck Wodka am Morgen ist immer der schwierigste

»Leck mich«, antwortete ich gereizt.
»Du solltest freundlicher mit mir sein.« Jobsts Gesicht nahm für den Bruchteil einer Sekunde einen strengen Ausdruck an. Dann besann er sich plötzlich eines anderen und lächelte: »Du hast Durst und bist pleite. Keine schönen Aussichten für einen Trinker.«
»Woher weißt du das?«
»Die kleine Schlampe, die vorhin den Kaffee brachte, hat’s mir verraten. Hast du sie gevögelt heute Nacht?«
»Was geht dich das an, du Vollidiot?«
»Ich kann auch wieder gehen. Und nehme den Schnaps und die zwanzig Euro, die ich dir eigentlich dalassen wollte, wieder mit.« Jobst machte Anstalten aufzustehen. Ich drückte ihn zurück in den verschlissenen Sessel, aus dem links und rechts der Schaumstoff hervorquoll.

»Ist okay«, zischte ich. »Was kann ich tun, um mir die Kohle zu verdienen?«
»Dann kommen wir also doch ins Geschäft. Das freut mich.«
»Mach’s nicht so spannend. Mich plagt bereits der Entzug. Gib mir die Pulle und spuck aus, was du von mir möchtest.« Mit zitternden Fingern drehte ich den Schraubverschluss auf, goss die klare Flüssigkeit in einen 0.3l-Kaffeebecher von Starbucks und kippte das Gift in einem Zug hinunter.
»Da hat aber jemand Brand.« Jobst wackelte ungläubig mit dem Kopf und erinnerte mich an einen Kneipenwirt, der in einer schmierigen Vorstadtkaschemme seine Kunden abfüllt.

Ich würgte und bemühte mich, die kostbare Substanz bei mir zu behalten. Es fehlte nicht viel, und ich hätte den Schnaps fontänenartig ausgespuckt. Einen Augenblick lang sackte mein Kreislauf in den Keller, während vor den Augen bunte Sterne wirbelten. Eine Minute später beruhigte sich mein gereiztes Nervensystem, und ich spürte, wie der Alkohol wohlig durch die Adern pulsierte.
»Alles in Ordnung, Henning? Kipp mir bloß nicht um, alter Junge.« Mein Nachbar zeigte sich ehrlich besorgt.
»Ist alles okay bei mir. Der erste Schluck am frühen Morgen ist der schwierigste. Weißt du ja. Hast bis vor zwei Jahren selbst ordentlich gebechert, Jobst.«
»Ja, ist scheußlich. Bin froh, dass ich das endgültig hinter mir gelassen habe.«
»Wird Zeit, dass du dir die Zähne richten lässt. Sieht scheiße aus.« Ich fühlte mich gestärkt und wurde frech.
»Und du solltest auf deine Leberwerte achten. Die werden entsetzlich sein. Hilfst du mir nun oder nicht?«

Mein neuer Job = Ghostwriter für Liebesgedichte

»Was brauchst du diesmal?«
»Ein Gedicht.«
»Irgendeines? Egal was?«
»Liebe.«
»Liebe?? … Kurz oder lang?«
»Mittel.«
»Wann?«
»Am besten sofort. Ich bin gleich mit Patricia zum Mittagessen verabredet.«
»Die dicke Patricia aus dem dritten Stock? Der willst du ein Liebesgedicht vorlesen, damit sie dich an sich ranlässt? Wenn die in den Lift einsteigt, springe ich wieder raus, weil sie mir bloß nicht zu nahe kommen soll.«
»Die Geschmäcker sind eben unterschiedlich. Tust du es oder nicht?« Jobst griff nach der angebrochenen Flasche. Ich schlug ihm mit voller Wucht auf die ausgestreckte Hand.
»Natürlich bekommst du romantische Zeilen von mir. Weil’s so schnell gehen soll, wird‘s aber etwas teurer. Leg noch einen Zehner drauf.«
»Du bist ein elender Blutsauger.«
»Und du eine kulturell völlig unterbelichtete Kanaille, die mit fremden Versen Eindruck bei einer Nymphomanin schinden will.« Jobst schob zwei Scheine in meine Richtung, lehnte sich zurück und wartete.

Ich warf das Geld in die Küchenschublade und stakste auf schwachen Beinen zurück ins Schlafzimmer, um mir ein frisches Hemd anzuziehen. Besorgt betrachtete ich meine weiße Brust, auf der sich die Rippenknochen klar abzeichneten. Der Magen knurrte. Im Darm rumorte es. Ich hatte seit Tagen keine feste Nahrung zu mir genommen. Wurde höchste Zeit für eine große Pommes bei Wurst-Willy, der seinen ambulanten Stand an der nächsten Straßenecke aufgebaut hatte.

»Ist der liederliche Spacko immer noch da?«, hörte ich eine verpennte Stimme aus meinem Bett.
»Hast du dich wieder hingelegt?«
»Ja. Bin müde und ausgevögelt. Was soll ich in deiner ranzigen Bude auch anderes tun, als mich aufs Ohr zu hauen? Nix zu rauchen, der Wodka ist alle. Scheint ein ätzender Tag zu werden.«

Lila räkelte sich, schüttelte die Rastalocken und schaute mich fragend an. Ich mochte sie wegen ihrer unbekümmerten Art, die sie bisweilen aufbrausen ließ, gut leiden. Wenn wir abends zusammen tranken und sie ein paar Pilze eingeworfen hatte, unterhielten wir uns über Gott und die Welt. Sie las viel, hatte Ahnung von Literatur. Das imponierte mir und machte sie in meinen Augen noch attraktiver, als sie es ohnehin schon war. Beim Sex schmolz sie stumm in meinen Armen dahin, was mir sehr gefiel, da ich gestammelte Liebesschwüre um zwei Uhr nachts immer schon gehasst hatte. Sobald meine Fingerspitzen über ihre festen Brüste glitten, und ich den schweren Duft, der ihrer Haut entströmte, tief in mich einsog, erregte ich mich, wie ich es seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Wenn wir erschöpft voneinander abließen, rollte Lila sich wie eine Katze zusammen, schmiegte ihren Kopf in meine Achselhöhle und schlief binnen Sekunden ein. In diesen Minuten spürte ich Glück. Trotzdem wollte ich mich ihr gegenüber emotional nicht zu weit öffnen.

Meine Erfahrungen in Sachen Liebe waren nicht die allerbesten. Sie schalt mich einen undankbaren alten Mann, der sie nicht verdient hätte. Vorgestern hatte sie wutentbrannt meinen Rücken blutig gekratzt und dabei hemmungslos geweint. Trotzdem wich sie seit Wochen nicht von meiner Seite. Keine Ahnung, welchen Fixpunkt sie in mir erkannte.

Ich könnte eine Literaturagentin gut gebrauchen

»Jobst hat sich verknallt und braucht sofort ein Liebesgedicht.«
»Zahlt er dafür?«
»Ja. Dreißig zuzüglich eine Flasche Schnaps.«
»Kennst du seine Flamme?«
»Jap: die dicke Patricia.«
»Die unrasierte Alte aus der dritten Etage?«
»Genau die.«
»Was willst du dir für die fette Nudel denn auf die Schnelle aus den Fingern saugen?« Lila kicherte.
»Keine Ahnung. Mir wird schon was einfallen.«
»Im Leben nicht. Morgens herrscht in deinem Gehirn völlige Ebbe. Da bist du noch nicht einmal für einen Einkaufszettel zu gebrauchen.«
»Das stimmt. Mist. Was mache ich jetzt?«

»Ich habe eine Idee. Kostet dich einen Döner.« Sie schaute mich erwartungsvoll an.
»Und zwar?«
»Nimm die Verse von gestern Abend: Wie ein Windhauch.«
»Die ich für dich verfasst habe. Dir wär’s egal?«
»Sind doch bloß Worte, Henning. Schreibst du mir nachher eben was neues. Die Kohle ist im Moment wichtiger.«
»Ich mag deine pragmatische Ader.« Erleichtert beugte ich mich über Lila und strich ihr sanft über die Stirn.

Ich ging zum Schreibtisch und suchte nach dem Blatt mit den flüchtig hingekritzelten Zeilen. Als ich den Zettel endlich gefunden hatte, nahm Lila ihn mir aus der Hand.
»Ich werde Jobst das Gedicht überreichen. Denn es gehört mir.«
»Von mir aus.«
Ohne falsche Scham spazierte sie nackt in die Küche, und ich blickte anerkennend ihrer schlanken Figur hinterher.
Aus dem Nachbarzimmer hörte ich Schluchzen und Wortfetzen. Die Haustür knallte ins Schloss. Unser Nachbar schien zu seinem Rendezvous aufgebrochen zu sein.

Lila kam zurück und wedelte mit einem orangefarbenen Schein vor meiner Nase herum.
»Würdest du nur ein bisschen einfühlsamer sein, Henning, und hättest dir seinen Liebeskummer angehört: Dann wärst du jetzt um 50 Euro reicher«, rief sie.
»Das Essen bei Wurst-Willy geht auf dich«, antwortete ich.
»Lass mich ab sofort deine Agentin sein«, sagte Lila und küsste mich mit ihren schönen Lippen, die genau wie meine nach Wodka schmeckten, auf den Mund.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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