Ein abgestumpftes Wrack

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Ich zähle Schiffe auf dem Rhein, Lila wird wütend und nennt mich ein abgestumpftes Wrack, das außer Saufen nichts anderes im Kopf hat. Und im Kühlschrank ist nichts mehr zu trinken.

„Du bist ein abgestumpftes Wrack“, sagt Lila, während sie nackt auf meinem Schreibtisch sitzt und sich die Zehennägel lackiert.
„Hm“, antworte ich.
„Was soll dein dämliches Hm bedeuten?“
„Gar nichts.“
„Das ist wieder typisch für dich. Kein vernünftiges Gespräch mit dir möglich. Außer zum Vögeln und Saufen bist du für nichts zu gebrauchen.“
„Pff.“
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ja.“ Lila hat Pilze eingeworfen und ist auf Streit aus. Ich möchte an diesem frühsommerlichen Juninachmittag jedoch lieber in Ruhe die Sonne genießen.
„Du hörst mich vielleicht. Verstehst aber Nullkommanichts.“
„Lila, was willst du von mir?“
„Dass du dich mit mir unterhältst.“
„Tue ich doch.“
„Oberflächlich: ja … wie immer eben.“
„Das wird gleich anstrengend … ist noch Bier im Kühlschrank?“

Schiffe zählen

„Du mit deinem ekligen Bier. Sieht aus wie Pisse und schmeckt auch so.“ Lila schnellt hoch, lauert jetzt in Angriffshaltung auf dem Tisch. „Du bist ein Schauspieler. Wie alle gottverfluchten Säufer. Für einen Schluck Wodka würdest du deine Mutter verkaufen. Du lügst in einer Tour. Mich kannst du allerdings nicht täuschen. Dafür kenne ich dich zu gut.“
„Lila, du siehst Gespenster.“
„Ja: dich! … schau dich bloß an: abgemagert mit spitzen Rippen, bleich wie der Tod, tellergroße Schatten unter den Augen, Zehntagesbart … eine jämmerliche Figur.“ Sie spuckt angewidert auf den Boden.
„Ich habe dich nicht gebeten, mit mir in die Kiste zu steigen. Du klingelst bei mir; nicht ich bei dir.“ Ich stehe auf, gehe in die Küche, angele zwei Bitburger aus dem Gefrierfach und lasse mich wieder auf den verschlissenen Sessel vor dem Balkonfenster fallen.
„Du versoffenes, undankbares Arschloch. Bier, Bier, immer bloß Bier. “ Lila springt geschmeidig wie eine Antilope auf den Teppich, schleudert den Nagellack an die Wand hinter mir, wo er zerplatzt. Sie bebt vor Zorn.
„Bleib cool“, sage ich. „Du hast zu viele Pilze eingeworfen. Die machen dich aggressiv.“
„Du, du machst mich aggressiv. Mit deiner völligen Abgestumpftheit. Nichts interessiert dich.“
„Doch.“
„Was zum Beispiel?“
„Der Fluss vor meinem Fenster.“
„Wie: der Fluss vor deinem Fenster? Verstehe ich nicht.“
„Na, ich zähle eine Stunde lang, die Schiffe, die stromabwärts fahren. Danach die Kähne in umgekehrter Richtung. Und dann berechne ich den Quotienten. Also heute zwischen 14 und 15 Uhr ergab das 1 zu 0,7 für die Pötte, die zur Mündung unterwegs waren. Schon erstaunlich, oder?“
„Willst du mich verarschen? Du Schwachkopf zählst tatsächlich Schiffe? Was Idiotischeres kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Lass dich in die Psychiatrie einliefern.“ Lila lacht höhnisch.

Sie steht jetzt breitbeinig vor mir, packt mich am Kopf, presst meine Lippen an ihre rasierte Scham. Ihre Möse ist feucht, riecht wie Erdbeer-Vanille- Marmelade. Ich stoße sie weg. Sie erstarrt für die Zeitdauer, die eine Wimper benötigt, um auf den Boden zu segeln, und wirft sich dann wie eine Furie auf mich. Zieht mit einer Scherbe des Nagellackgefäßes eine tiefe Furche über meine Brust.
„Scheiße“, fluche ich. „Das schmerzt.“
„Geschieht dir völlig recht, du Penner“, kreischt sie mit einer Miene, die mich an den heiligen Wahnsinn der delphischen Pythia erinnert. Dann umarmt sie mich, heult wie ein kleines Kind, und ich spüre, wie sich meine Blutstropfen mit ihren Tränen vermengen.

Ich mag Lila. Sie ist jung, bildhübsch, eloquent, witzig. Ihre schwarze Haut spannt sich straff über festem Fleisch. Das kluge Gesicht wird von langen dunklen Locken eingerahmt, die sie manchmal mit einem Pferdeschwanz bändigt. Der Klang ihrer Stimme kann blitzschnell zwischen dem sanften Gurren einer Taube und dem Fauchen eines Panters wechseln. Keine Ahnung, welchen Narren sie an mir gefressen hat. Ich könnte ihr Vater sein; zumindest der sehr viel ältere Bruder. Vielleicht, weil ich ihr vor einigen Monaten ein paar selbst fabrizierte Gedichte in der geschlossenen Abteilung vorgelesen habe. Sie liebt Poesie, hat sie damals mit strahlenden Augen erklärt.

Treffen an der Schnittstelle von Nihilismus & Misanthropie

Wenn sie Pilze, Speed und Schnaps vogelwild einschmeißt, enthemmt sie sich völlig, wird geradezu nymphoman. Die ersten Male hatte mich ihre nicht enden wollende Begierde fasziniert. Mittlerweile finde ich ihre Gier oft ermüdend. Wir haben 48 Stunden im Bett verbracht, das Kamasutra rauf und runter gevögelt. Ich bin ausgewrungen wie ein Kniestrumpf, der zwei Tage im bei 90 Grad im Wäschetrockner geschleudert wurde, will ein paar schnelle Bier trinken und dann nur noch pennen. Am besten eine Woche lang. Und Lila hat immer noch nicht genug. Jetzt will sie auch noch reden. Worüber: Dostojewski, van Gogh, Mahler? Interessieren sie nicht die Bohne. Sie liest Mangas, hält Warhol für ein Genie und hört Hip- Hop. Wir treffen uns einzig an der Schnittstelle von Nihilismus und Misanthropie. Dort, wo mein Egalsein in ihren flammenden Hass auf alle Menschen einmündet. Sobald Lila in der passenden Stimmung ist, möchte sie jeden killen. Als erstes ihre gutbürgerlichen Eltern. Ich bin so alt, dass ich begriffen habe: alle Schwachköpfe kann man nicht ins Jenseits befördern. Auf einen Toten kommen fünf neue Arschgeigen. Meine Überlebenstaktik besteht darin, mich zurückzuziehen, alleine zu trinken und die Welt um mich herum in einem Ozean des „Leckt mich!“ zu ersäufen. Hass kann ein sehr anstrengendes Gefühl sein. Lila ist deshalb oft geistig und seelisch erschöpft. Am meisten hasst sie aber sich selbst.

„Schlaf mit mir!“; sagt sie.
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Keine Lust.“
„Du bist so ein Egoist.“
„Stimmt.“
„Du gibst es auch noch zu?“
„Ja.“
„Ich hasse dich!“, brüllt sie. „Ich hasse dich.“

Dann rast sie zur Tür, knallt die mit Getöse zu, und ich höre sie schluchzend über den Korridor zum Lift laufen. Ich öffne die letzte Flasche Whiskey, schütte die goldbraune Flüssigkeit in ein Wasserglas, lehne mich ans Fenster und schaue auf den Fluss. Dessen gemächlicher Wellengang und die sanft geschwungene Hügelkette auf der anderen Seite üben seit vielen Jahren eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Mein Magen knurrt. Habe mehrere Tage nichts gegessen. Außer schimmliger Wurst ist nichts im Haus. Ich muss also notgedrungen raus zum Supermarkt. Kann ich gleich ein paar Bier mitbesorgen.

Vielleicht liegt Lila gar nicht verkehrt, und mein Nihilismus ist nichts anderes als Selbstschutz. Ein Panzer aus „ihr könnt mich kreuzweise“, um meine schnelle Verletzbarkeit abzuschirmen und zu verbergen. Die Abgeklärtheit, für die mich viele bewundern, ist schon längst in Abgestumpftheit umgeschlagen. Lila, die sich nach Liebe sehnt, will mich aus der Isolation befreien. Sie führt die Operation aber mit den falschen Instrumenten durch. Verwendet oft einen Schlagbohrer, wo ein kleines Skalpell ausreichen würde. Mit ihrer aufbrausenden Art zerstört sie in Sekunden das, was sie vorher in Wochen aufgebaut hat. Einzig beim Kamasutra harmonieren wir. Schon bei gemeinsamen Restaurant- und Kinobesuchen ist es schwierig. Sie wird schnell verhaltensauffällig, beschimpft Kassierer, legt sich mit den Kellnern an. Ich will dann zurück in meine Wohnung, weil ich auf ihre Szenen in der Öffentlichkeit keinen Bock habe.

Nackt durchs Treppenhaus

Jemand klopft laut an die Tür. Ich bemerke es erst beim dritten oder vierten Mal. Als ich öffne, steht Lila vor mir.
„Warum lässt du mich nackt durchs Haus rennen? Was sollen deine Nachbarn denken?“
„Du hast deine Klamotten vergessen?“
„Wonach sieht’s sonst aus, du Nullchecker?“
„War mir gar nicht aufgefallen.“
„Natürlich nicht. Du schnallst selten was. Bist halt verlangsamt in deinem Denken und Handeln.“ Während Lila mit mir schimpft, lächelt sie, ihre perlweißen Zähne blitzen. Sie scheint nicht mehr sauer auf mich zu sein.
„Willst du reinkommen, oder soll ich dir deine Sachen bringen?“

Statt einer Antwort fällt Lila mir um den Hals, küsst mich. Ihre Lippen schmecken nach Weißwein. Ich stöhne leise, als sie mit der Zunge durch meine Ohrmuschel gleitet. Sie merkt, dass ich scharf auf sie werde, zieht mich an der Hand hinter sich her zum Bett. Dort angekommen, fällt Lila in die Kissen, rollt sich wie eine Katze zusammen, schmiegt sich eng an mich und schläft mit der Nase auf meinem Bauchnabel ein. Während sie gleichmäßig atmet, bin ich hellwach und überlege, wie ich Nachschub organisieren kann, ohne die Kleine aufzuwecken. Unentschlossen wickele ich eine ihrer Locken über meinen rechten Zeigefinger. Ich mag Lila.

Bild: Gabriele Prade

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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