Auf der Suche nach dem Urknall (4)

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Im Raucherzimmer gehen sich Lila und Petra an die Gurgeln. Ich treffe Rolf wieder, den ich seit unserem letzten gemeinsamen Trinken auf dem Friedhof völlig aus den Augen verloren hatte, und er erklärt mir, dass ich im Gegensatz zu ihm aus niederen Beweggründen heraus saufen würde. 

»Schön, dich zu spüren. Habe Sehnsucht nach dir gehabt«, hauchte sie.
»Wie lange bist du schon hier?«, wollte ich wissen.
»Drei Tage.«
»Dann hast du mitbekommen, wie sie mich gestern eingeliefert haben?«
»Ja, und ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.«
»War’s so schlimm?«
»Du bist beinahe abgenippelt, blöder Idiot.«
»Weiß ich. Hat mir Pfleger Franz schon erzählt.«
»Da bist du wahrscheinlich noch stolz drauf: harter Kerl, der sechs Promille überlebt. Du bist so ein bemitleidenswertes Opfer.«
»Ich habe überhaupt nichts gesagt«, verteidigte ich mich.
»Aber gedacht. Ich seh’s an deinem Blick.«
»Lila, willst du dich mit mir streiten oder zur Abwechslung mal friedlich unterhalten?«

Lauter alte Bekannte im Raucherzimmer

In der Art einer ägyptischen Katze schmiegte sie sich an, und wir schlenderten gemeinsam zum Raucherzimmer. Beißender Qualm aus zwanzig selbst gedrehten Kippen, der gemächlich die gelben Wände emporkroch und sich unter der Decke wie schmutziger Hochnebel staute, empfing uns. Ich hustete, Lila schimpfte laut: »Könnt ihr faulen Nichtsnutze nicht mal ein Fenster öffnen! Das ist ja nicht zum Aushalten.«

»Bowie und Imam. wieder vereint. Ich könnte kotzen.«
»Wer war das?« Lila schnellte wie ein Pfeil von der Sehne eines stramm gespannten Bogens in die hintere Ecke des Raums, aus der die Pöbelei gekommen war. Dort krallte sie sich mit ihren spitzen Fingernägeln in der Kopfhaut Petras fest und schlug die Zähne tief in deren Schulter hinein. Es kostete mich Mühe, Lilas Kiefer so weit auseinanderzudrücken, dass Petra sich mit schmerzverzerrtem Gesicht von ihr trennen konnte. In diesem Moment ähnelte Lila eher einem Raubtier aus der ostafrikanischen Savanne denn einem menschlichen Wesen. Allerdings fühlte ich mich gerade wegen dieses im Grunde genommen wahnsinnigen Charakterzugs zu ihr hingezogen. Denn Lilas spontane Aggressivität hatte nichts gemein mit heimtückischer Angriffslust, sondern rührte daher, dass sie fälschlicherweise annahm, meine Ehre verteidigen zu müssen.

»Beruhige dich«, raunte ich ihr zu und erkundigte mich gleichzeitig bei Petra: »Alles in Ordnung mit dir? Warum musst du sie unnötig reizen? Du weißt, wie unberechenbar die Kleine reagiert.«
»Sie ist so eine Bitch«, fauchte Lila, die im Begriff stand, sich erneut auf ihre Widersacherin zu stürzen, sodass ich sie fest umklammerte, damit sie kein weiteres Massaker veranstalten konnte.

Petra hielt inzwischen mit der Rechten ihren blutenden Oberarm in die Höhe und wimmerte: »Die Verrückte gehört in ein Irrenhaus.«
»In dem befinden wir uns doch schon; oder nicht?« Aus dem Hintergrund erschallte eine mir wohlbekannte Bassstimme. »Henning mit seinem Faible für exotische Frauen.«

Ein notorischer Klugscheißer

Mit vom Alkohol und Valium geröteten Augen entdeckte ich hinter dem Schleier aus Nikotin und im Sonnenlicht tanzenden Staubpartikeln meinen alten Kumpel Rolf. Als ich ihm das letzte Mal begegnet war, saßen wir auf einer morschen Holzbank vor dem namenlosen Grab 147 im alten Friedhof hinter der Klinik und zechten. Als Akademiker, der andere gerne an seiner Allgemeinbildung teilhaben ließ, dozierte Rolf an diesem lauen Frühlingsnachmittag über den Sonnenglauben des Pharaos Echnaton und entrüstete sich darüber, dass ich nur wenig Interesse für den religiös eifernden König aufbrachte und mir stattdessen Gedanken über die sexuelle Ausstrahlung seiner Gattin Nofretete machte.

»Dir ist einfach nicht zu helfen, Henning«, giftete er. »Bei dir dreht sich alles ums Saufen und Vögeln. Das widert mich wirklich an.«
»Gut, dass du von allem Laster abstinent bist, alter Pharisäer«, lachte ich, denn ich wollte mir von ihm den gerade eingeläuteten Abend nicht verderben lassen.
»Das ist anders als bei dir«, erwiderte er.
»Nämlich?«, fragte ich zurück.
»Ich trinke nicht aus Freude am Suff, sondern um meine Depressionen im Zaum zu halten.«
»Deshalb schluckst du doch bereits kiloweise Tabletten. Die helfen nicht?«, erkundigte ich mich in gespielter Naivität bei ihm.
»Das verstehst du nicht, denn du konsumierst nicht aus einem Gefühl des Weltschmerz heraus wie ich, sondern aus purer Lust am Rausch.«

Auch Rolf gab sich dem Irrglauben hin, dass er soff, weil ihm in der Vergangenheit himmelschreiendes Unrecht widerfahren war. Den Verlust von Beruf, Frau und Termingeldkonten hatte er bis heute nicht verdaut. Eigentlich wäre er bei der Suche nach dem Urknall der ideale Gesprächspartner für Frau Schneider gewesen, wenn er nicht partout so rechthaberisch auftreten würde. Die Psychologin hätte sich lieber eine Woche alleine in ihrem kleinen Zimmer einsperren lassen, als nutzlose Diskussionen mit Rolf zu führen, die ohnehin zu achtzig Prozent aus Monologen, die ohne Punkt und Ende aus seinem Mund sprudelten, bestanden.

Nachdem er zu vorgerückter Stunde die tote Whitney Houston schmähte und deren Gesangskunst in Zweifel zog, da ihre Stimme seiner Meinung nach bei weitem nicht an die der Callas heranreichte, bereute ich es, mich mit ihm verabredet zu haben und sann darüber nach, welche Alternativen die soeben angebrochene Nacht mir noch bieten könnte. Als er gegen dreiundzwanzig Uhr in betrunkenem Zustand von der Bank rutschte, ließ ich ihn deshalb auf den von Moos überwucherten Granitplatten vor Grab 147 liegen und machte mich auf den Weg zum Bahnhof, um dort nach Bekannten Ausschau zu halten.

Erst die Depression und dann der Alkohol oder doch umgekehrt?

Ob er den kleinen Vorfall mittlerweile abgehakt hat? überlegte ich. Wahrscheinlich nicht, denn Rolf verfügte trotz seines jahrelangen Alkoholmissbrauchs über ein ausgezeichnetes Gedächtnis und vergaß so gut wie nichts. Zudem war er nachtragend und schnell beleidigt. Nun hockte er an diesem brütend heißen Tag in dunklem Anzug und Krawatte auf einem klapprigen Stuhl im Raucherzimmer der geschlossenen Abteilung und qualmte eine dicke Zigarre. Rolfs äußere Erscheinung war schwerfällig, ungelenk und bäurisch; mit seinem durchtriebenem Gesicht, dem konturlosen Kinn und den straff nach hinten gekämmten Haaren ähnelte er einem vollgefressenen, haltlosen und groben Kneipenwirt, wie man sie in den kleinbürgerlichen Vororten der Stadt antrifft. Seine Miene konnte abwechselnd entweder überaus streng wirken, um im nächsten Moment von tausend kleinen Lachfalten durchzogen zu werden. Am meisten amüsierte er sich über seine eigenen Bonmots, von denen er glaubte, dass sie besonders geistreich seien. Eine Meinung, die nicht alle Patienten der geschlossenen Abteilung teilten.

Früher hatte er als erfolgreicher Wirtschaftsprüfer gearbeitet, bevor ihn widrige Umstände – die er jedoch nie näher erläuterte – dazu zwangen, seine Kanzlei zu schließen und mit dem Betäuben seiner Gefühle zu beginnen. Er selbst bezeichnete sich gerne als Sekundär-Alkoholiker, um bereits mit der Wahl des Begriffs darauf hinzuweisen, dass er keinesfalls der großen Gruppe der hedonistischen Säufer angehörte, sondern einzig aufgrund seiner gottgegebenen melancholischen Ader quasi dazu gezwungen wurde, ab und an zur Flasche zu greifen. Wäre er hingegen als fröhlicher Mensch auf die Welt gekommen – an dieser Stelle seines Vortrags pflegte er mich jedes Mal streng anzublicken –, dann hätte er niemals mit dem Schnaps angefangen. Seiner Meinung nach stellte er einen Trinkertypus sui generis dar. Auf diese Weise grenzte er sich von mir und den anderen verlorenen Seelen in der Suchtstation ab. Mit seiner dozierenden Art machte Rolf sich allerdings nicht nur Freunde in der Abteilung und wurde von den meisten Alkoholikern gemieden, sodass er heute froh schien, mich zu sehen und mir die Sache auf dem alten Friedhof deshalb nicht weiter krumm nahm. Denn obwohl er sich gerne mit dem Nimbus des einsamen Wolfes umgab, kam er mit dem Alleinsein nur schlecht zurecht und suchte in der Klinik nach Unterhaltung und Ablenkung.

»Bist du auch wieder hier reingeschneit«, begrüßte er mich freundlich. »Man kann beinahe die Uhr nach dir stellen, so regelmäßig kreuzt du in der Station auf.«
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Hier zu 2, hier zu 1.
Und hier ab morgen zur Fortsetzung.

Bild von kalhh auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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