Die schwerblütige Nachbarin (1)

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Die hübsche Nachbarin von gegenüber lädt mich zum Essen ein, hat wenig an, als sie mir die Tür öffnet, stellt Wein auf den Tisch, und ich überlege, ob meine Abstinenz schon belastbar genug ist.

‚Unbekannter Teilnehmer‘ entzifferte ich mühsam auf dem Display, denn ich hatte meine Brille verlegt. Flog vermutlich in der Küche neben dem Topf mit den kalten Nudeln rum.

Telefonat um Mitternacht

»Hallo«, sagte ich vorsichtig.
»Sie sind noch wach. Schön«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Wer spricht da?«
»Swetlana.«
»???«
»Vorgestern Abend im Supermarkt.«
»Ah ja, die nette Kassiererin.«
»Ist der Groschen endlich gefallen?« Sie kicherte.
»Es ist schon spät. Da bin ich manchmal ein bisschen langsam.«
»Ich hatte gesehen, wie das Licht angeht und da kam mir spontan die Idee anzurufen.«
»Sie schauen auf mein Fenster?«
»Ja, ich wohne direkt gegenüber. Wenn du willst, winke ich dir.«
»Das ist jetzt aber keine Sache mit Fernglas und Infrarotkamera, oder?«
»Was denkst du von mir? Ich stalke nicht!«
»Gut zu wissen. … Woher haben Sie meine Nummer?«
»Kannst Swetlana zu mir sagen. Nur nicht so förmlich.«
»Okay.«

»In deinem Zimmer lebte vorher Natalya.«
»Freundin von dir?«
»Das ist zu viel gesagt. Eine Bekannte. Das arme Ding …« An dieser Stelle stockte Swetlana; auch ich blieb stumm.
»Johannes hat mir deine Nummer verraten«, fuhr sie nach einigen Sekunden fort.
»Den kennst du?«
»Wer nicht? In unserem Viertel bekannt wie ein bunter Hund.«
»Ja, er ist sehr mitteilsam. Hat er sonst was über mich gesagt?«
»Dass du Alkoholiker bist? Nein.«
»Woher weißt du es sonst?«
»Wer außer einem trockenen Alki legt am Samstagabend Buttermilch und Coke Zero aufs Band?«
»Super Beobachtungsgabe!« Meine Stimme wurde freundlicher und Swetlana lachte. Das Eis war gebrochen.

Swetlana lud mich für übermorgen zum Essen bei sich ein. Mittwochs hatte sie frei. Die anderen Tage – den Sonntag ausgenommen – verbrachte sie von 14 bis 21 Uhr im Discounter. Wir verabredeten uns für acht Uhr. Am Dienstag ging ich abends zum Griechen und bestellte mir dort Gyros mit Zaziki, um ihr nicht im Supermarkt begegnen zu müssen. Was hätte ich da schon Schlaues an der Kasse sagen sollen? »Schön, dass wir uns morgen sehen. Was wirst du Leckeres kochen? Soll ich Tabasco mitbringen?« oder irgendeinen anderen Quatsch. Ich rief sie vorher auch nicht mehr an, sondern wartete in Ruhe ab, wie sich die Dinge bei unserem ersten Date entwickeln würden. Erfahrungsgemäß bemerken sowohl Mann als auch Frau innerhalb von fünf Minuten, ob sie sich gegenseitig riechen können. Binnen einer Stunde ist klar, wie der Abend enden wird.

Weihnachtsstern und Rachmaninoff

Ich kaufte einen Weihnachtsstern. Ich mochte diese Topfpflanze zwar nicht sonderlich gerne, jedoch war es die richtige Jahreszeit dafür und der kleine Pott kostete nur sechs Euro. Sekt oder Wein wollte ich nicht mitbringen. Hätte bei einem Alkoholiker komisch ausgeschaut. Mit fünf Minuten Verspätung stand ich vor Nummer 75. Ich klingelte bei Meier. Ohne Rückfrage wurde geöffnet. Swetlana war also nicht ängstlich. Gefiel mir. Mein grünes Foyer sah in ihrem Hochhaus blau aus. Ansonsten war alles identisch. Dieselben verbeulten Briefkästen, derselbe überquellende Mülleimer in der rechten Ecke. Wäre ich betrunken gewesen und irrtümlich hier gelandet, hätte ich den Unterschied sicher nicht gerafft, im zehnten Stock laut geflucht, weil der Schlüssel nicht passte und mich schließlich erschöpft im Flur schlafen gelegt. War mir früher häufig passiert, dass ich in fremden Vorgärten aufwachte und mich im Morgengrauen davonstahl. Froh, dass mich die Bewohner nicht bemerkt hatten.

Ich nahm den Lift, weil ich nicht außer Atem bei meiner neuen Bekannten aufkreuzen wollte. In der schmalen Kabine roch es nach Gulaschsuppe und billigem Parfüm. Swetlana erwartete mich bereits im Türrahmen. Sie war größer, als ich sie am Samstag an der Kasse eingeschätzt hatte. Mehr als ein Zentimeter fehlte nicht zu mir. In weiser Voraussicht trug sie flache Schuhe. Unter dem taillierten Pullover malte sich ein prächtiger Busen ab. »Ob der von selbst steht?«, überlegte ich. Braune Locken fielen bis über die Schultern und umrahmten ein schmales Gesicht mit hoher Stirn. Ein voller Mund mit sinnlichen Lippen. Dunkelblaue Augen, die mir freundlich entgegenblickten.

»Hallo«, sagte ich. »Danke für die Einladung.«
Sie nahm mich an der Hand führte mich nach drinnen. Drei Zimmer, Küche, Bad. Geschmackvoller eingerichtet als Johannes Bude.
»Schön hast du es hier. Und von diesem Fenster aus kannst du mich beobachten?«
»Genau«, lächelte sie. »Du brauchst aber nicht so laut zu reden. Ich bin nicht taub.«
»Pardon. Im Job habe ich es mir angewöhnt, leise zu sprechen, um die Stimmbänder zu schonen. Draußen vertue ich mich dann manchmal mit der richtigen Lautstärke.«
»Oder du übertünchst damit deine Verlegenheit. Kann ja auch sein.« Auf den Kopf gefallen war sie nicht. Ich hielt ihr mein kleines Geschenk entgegen.

»Ein Weihnachtsstern. Nicht sonderlich originell. Aber zumindest hast du an ein Mitbringsel gedacht. Das ist sehr aufmerksam von dir.« Sie stellte den Topf aufs Fensterbrett in eine Reihe mit fünf anderen Weihnachtssternen.
»Willst du Musik auflegen? Ich kümmere mich derweil ums Essen.«

Aus dem Regal fischte ich eine alte Horowitzaufnahme: Das dritte Klavierkonzert von Rachmaninoff. 1978 mit den New Yorker Philharmonikern.

»Du magst russische Musik?«
»Ja.«
»Und unsere Küche?«
»Kommt darauf an. Es gibt einige gute Gerichte.«
»Pelmeni okay?«
»Sehr lecker. Mit Fleischfüllung?«
»Sehe ich aus wie eine Vegetarierin?«

Wird meine Abstinenz halten?

Sie servierte Rassolnik, die Teigtaschen und zum Nachtisch Quarkcreme mit Himbeeren. Wahrscheinlich über 3000 Kalorien, die ich zwischen neun und zehn verschlang. Sie stellte Coke Zero auf den Tisch und goss sich selbst Mineralwasser ein.

»Meinetwegen brauchst du dir keinen Zwang aufzuerlegen«, sagte ich. »Trink ruhig Wein, wenn du möchtest.«
»Du könntest dabei zusehen, ohne Durst zu bekommen?« Sie musterte mich argwöhnisch.
»Ja. Funktioniert mittlerweile. Bloß bei Bier muss ich aufpassen. Das triggert.«
»Hast Glück gehabt. Ich lebe nahezu abstinent.«
»Wieso?«
»Mein Vater war starker Alkoholiker. Wollte partout nicht aufhören. Ist elend an dem Zeug krepiert, als er in seiner Gier Wodka auf Antabus gesoffen hat. Vor den Augen meiner Mutter.«
»Das schreckt ab. Verstehe ich.«
»Kaffee?«
»Gerne.«

Als sie aufstand und sich umdrehte, schaute ich verträumt auf ihren Hintern. Ich ahnte, nein ich wusste, dass mein Zölibat nicht mehr lange währen würde. Ich hatte allerdings unverschämtes Glück, dass sie keinen Tropfen anrührte. Das machte die Sache leichter. Sex bedeutete ein Hochrückfallrisiko für mich. Ich wusste schon, weshalb ich allzu intimen Körperkontakt mied wie ein Fisch die Katzenpranke. Würde sie dabei trinken, wäre es um meine Abwehrkräfte schnell geschehen. So gut kannte ich mich.

»Woran denkst du?« Sie stellte zwei Espressi mit geschäumter Milch auf den Tisch.
»Ehrliche Antwort?«
»Ja!« Und wieder heftete sie ihre dunkelblauen Augen auf meinen Mund. So als ob sie meine Worte nicht nur hören, sondern zusätzlich lesen wollte.
»Ich überlege, ob Sex für mich okay ist.«
»Bist du impotent?«
—–

Hier geht’s morgen zur Fortsetzung.

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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