Auf der Suche nach dem Urknall (6)

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Rolf macht Lila ein vergiftetes Kompliment, die zerschneidet sich im Anschluss mit einer Scherbe ihr Gesicht und wird in eine andere Station verlegt. Und ich fühle mich am Ende von Tag 2 in der Geschlossenen noch mieser als am Morgen. 

Na, ihr zwei Turteltauben. Macht es euch was aus, wenn ich mich aus eurer illustren Runde entferne?« Rolf hatte seins und die Hälfte meines Abendessens verzehrt, strich sich mit der Hand über den immer noch knurrenden Magen und war im Begriff, aufzustehen.
»Sprichst du immer so gewählt, Rolf?« Zum ersten Mal redete Lila ihn freundlich an, was Rolf – der für weibliche Signale durchaus empfänglich war – schmeichelte, weshalb er sitzenblieb.
»In dieser Station eigentlich nicht. Ich passe mein Vokabular der jeweiligen Umgebung an.«
»Er will damit ausdrücken, dass wir anderen Alkis zu dumm sind, um ihn zu verstehen.«
»Du hast es auf den Punkt gebracht, Henning.«
»Jetzt streitet euch doch nicht, ihr beiden.«
»Wir zanken uns gar nicht. Dafür müssten wir uns auf gleicher Augenhöhe befinden. Aber erlaube kurz einen neuen Gedanken: hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du ein perfektes Gesicht besitzt, Lila?«
»Nein, Rolf.«

Ein vergiftetes Kompliment

»Ein italienischer Maler hat sich so geäußert: Schönheit ist die Summe der Teile, bei deren Anordnung die Notwendigkeit entfällt , etwas hinzuzufügen, zu entfernen oder zu ändern.«
»Das hast du ganz wunderbar ausgedrückt, Rolf. Siehst du das auch so, Henning?«
»Ich? Ja, ist schon okay.«
»Du bist ein alter Griesgram. Nimm dir ein Beispiel an Rolf, dem Charmeur. Der behandelt Frauen sogar in der traurigen Klinik mit dem ihnen zustehenden Respekt. Er ist witzig und aufmerksam und nicht so ein gleichgültiges Monster wie du. Ich geh dann mal auf mein Zimmer. Bin müde. Bis später, ihr Zwei.« Sie brachte ihres und mein Tablett zurück in die Küche und erst jetzt bemerkte ich, dass sie barfuß herumlief.

»Na, wie fandst du das Zitat, Henning?«
»Scheiße.«
»Da du es nicht kanntest?«
»Rolf, das spricht Nicolas Cage zu Jessica Biel im Film Next. Und: Es war ein deutscher Maler, kein Italiener.«
»Bei Hollywood bist du mehr Experte als ich. Die Quelle ist doch vollkommen egal. Hauptsache, es hat Lila gefallen. Ich glaube, sie hat sich über das Kompliment sehr gefreut.«
»Weiß nicht.«
»Du bist eifersüchtig, weil Du nicht selbst auf die Idee gekommen bist. Los, gib’s zu.«

Black Mamba sorgt sich

»Hallo, Herr Hirsch. Schön, dass Sie endlich wieder bei den Lebenden sind.« Neben mir stand unverhofft Schwester Veronika, die gerade mit ihrer Abendschicht begonnen hatte. Von uns liebevoll Black Mamba gerufen. Wegen ihrer Vorliebe für hautenge schwarze Bodies. Sie passte eher als Ninjakämpferin in einen japanischen Schwertfilm als in dieses Krankenhaus. Ich freute mich, sie zu sehen. »Wissen Sie überhaupt, wie Sie hierhergekommen sind?«
»Habe nur dunkle Erinnerungen an die vergangenen achtundvierzig Stunden.«
»Wir haben Sie mehr tot als lebendig vorgestern aus Ihrer Wohnung rausgeholt. Das war allerletzte Eisenbahn. Sie wären beinahe abgekratzt.«
»Hat mir Pfleger Franz heute früh gesteckt. Klingt aber auch aus Ihrem Mund sehr übel.«
»Da sagen Sie was. Ruhen Sie sich aus, und kommen Sie langsam wieder auf die Beine. Medikamente bringe ich Ihnen gleich vorbei.«

In düsterer Gemütsverfassung angelte ich mir einen alten Kicker und blätterte lustlos in den mit Kaffeeflecken besprenkelten Seiten herum. Es gelang mir jedoch nicht, mich auf die kurzen Texte zu konzentrieren, und so betrachtete ich notgedrungen nur die Bilder von Fußballspielern, Trainern und Vereinsfunktionären. Irgendwann werde ich nicht mehr lesen können, argwöhnte ich. Spätestens dann werden sie mich in ein Pflegeheim einweisen. Kein schöner Gedanke, wenn man wie ich schwitzend und mit Puls 170 am frühen Abend im Aufenthaltsraum der geschlossenen Station saß und bibbernd auf die nächste Ration Pillen wartete.

Lila ritzt sich

»Herr Hirsch, kommen Sie schnell mit.« Die völlig aufgeregte Veronika tauchte plötzlich vor mir auf. In ihren schreckgeweiteten Augen spiegelten sich Fassungslosigkeit und Trauer.
»Was ist los, Schwester?«
»Die junge Frau, Ihre Freundin, hat sich was angetan.«
»Ich bin kein Arzt.« Die waren erfahrungsgemäß nie in der Nähe, wenn was passierte.
»Weiß ich. Aber sie fragt nach Ihnen.«

Gemeinsam hasteten wir zu Lilas Zimmer, wobei ich eher hinkte und trotz der kurzen Strecke schnell aus der Puste geriet. Uns bot sich ein grauenerregender Anblick. Eine blutverschmierte Lila. Ein zerborstener Spiegel im Badezimmer. Sie hielt mir ihre Hand entgegen. Ich nahm sie in die meine.
»Henning, ich habe mich bestraft.« Ich nahm sie in meine Arme, sie schluchzte hemmungslos, ihr schlanker Körper wurde von Heulkrämpfen geschüttelt.
»Ich sehe es.«
»Nachdem mir dein Freund das mit der Schönheit gesagt hatte, da verspürte ich mit einem Mal einen enormen Druck in mir.«
»Ja, leider.«
»Ich habe versucht, es zu unterdrücken. Aber dann wurde der Zwang zu groß.«
»Das ist bei Menschen wie dir so.«
»Ich musste mich einfach ritzen.«
»In dein schönes Gesicht. Ich könnte weinen, wenn ich dich anschaue.«

Fassungslos schüttelte ich den Kopf, während mir Lilas Blut über Hemd, Hose und die weißen Tennisschuhe tropfte. Ich würde meine Sachen nachher in die Mülltonne werfen. Machte ich jedes Mal so, wenn ich mit vollgepissten Jeans und zerrissenen T-Shirts in der Klinik aufschlug. Das Vernichten der verdreckten Kleidung bedeutete für mich einen wesentlichen Bestandteil meines allmonatlichen Reinigungsprozesses. Veronika und eine mir unbekannte Assistenzärztin versuchten derweil, die Verletzungen provisorisch zu behandeln und verabreichten Lila eine Spritze mit einem starken Beruhigungsmittel in die linke Armbeuge. Danach ließen sie uns alleine; ermahnten uns jedoch, weitere Dummheiten auf jeden Fall zu unterlassen.

»Henning, wirst du mich auch lieben, wenn ich in Zukunft aussehe wie ein Zombie?«
»Ja!«
»Glaubst du, dass man die Narben lasern kann?«
»Natürlich«, log ich. Was hätte ihr in diesem Moment die Wahrheit genützt?
»Das stimmt nicht. Brauchst nicht zu flunkern. Ich weiß, dass du mich nicht unnötig aufregen möchtest.«
»In der plastischen Chirurgie sind heute viele Dinge möglich«, antwortete ich mit schmalen Lippen.
»Das ist nicht weiter schlimm. Mir reicht es, dass du jetzt neben mir sitzt. Geh bitte nicht weg!«. Lila versuchte, tapfer zu sein und sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.

Am Abend fühle ich mich noch mieser als am Morgen

Nach einigen Minuten, in denen wir über belangloses Zeug geplaudert hatten, kehrte die junge Ärztin zurück: »Wir werden Sie in einer Stunde in die psychosomatische Abteilung verlegen.«
»Ich möchte aber bei ihm bleiben.« Lila bäumte sich auf und wollte aus dem Zimmer fliehen. Sachte drückte ich sie zurück in ihren Sessel.
»Lila, sie werden es tun. Das ist eine Entgiftungsstation. Fälle wie deiner sind hier nicht richtig aufgehoben.«
»Wirst du mich da besuchen?«
»Klar.« Aber nicht so bald, wie du hoffst. So schnell werden sie mich aus der Geschlossenen nicht rauslassen, ging es mir durch den Kopf, verriet es Lila allerdings nicht.

An der dick gepanzerten Ausgangstür verabschiedeten wir uns. Veronika tippte einen fünfstelligen Code in die an der Wand befestigte Tastatur, die beiden Flügel des Portals glitten mit einem leisen Summen auseinander und gaben für einige Sekunden den Blick frei in die Außenwelt. Ein bulliger Pfleger, den ich zum ersten Mal sah, packte Lila an der Schulter und bugsierte sie hinaus in die unendlich langen Korridore des psychiatrischen Krankenhauses. Sie drehte sich ein letztes Mal um, weil sie mir zuwinken wollte. Ich hatte mich jedoch bereits abgewandt, da ich tränenreiche Lebewohlszenen nicht leiden konnte.

In noch niedergeschlagenerer Stimmung als einige Stunden zuvor schlurfte ich zurück in das Raucherzimmer. Dort warteten bereits Rolf und Rene auf mich. Vor Neugier schier platzend, um sich von mir über die jüngsten Geschehnisse informieren zu lassen. Ich aber schwieg.

»Wie geht es Lila?«, unterbrach Rolf schließlich die Stille.
»Sie wird’s schon überleben. Aber ihr Gesicht ist halt im Eimer«, antwortete ich einsilbig.
»Immer dasselbe mit den Junkies.« Rene grinste, während er sich mit spinnenartigen Fingern eine Kippe drehte.
»Ihr zwei Clowns versteht gar nichts. Lasst mich bloß in Ruhe! Heute fühle ich mich supermies.«

Ich setzte mich in die hinterste Ecke des Raums und stierte mit inhaltsleerem Gehirn an die gelbe Tapete. Vom Sekundenschlaf übermannt döste ich an Ort und Stelle ein und wurde eine Stunde später von Veronika sanft aufgeweckt, die mich, ohne ein Wort zu sagen, in mein Bett verfrachtete.
ENDE
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Bild von Hans Braxmeier auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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