Viertel vor sechs abends. Ich habe Hunger. Ich habe echt Hunger. Im Kühlschrank nichts außer drei Scheiben Salami, ein Himbeerjoghurt und ein halber Mozzarella, bei dem das MHD im September abgelaufen ist.
Tagebuch, 10. November
Viertel vor sechs abends. Ich habe Hunger.
Ich habe echt Hunger.
Im Kühlschrank nichts außer drei Scheiben Salami, ein Himbeerjoghurt und ein halber Mozzarella, bei dem das MHD im September abgelaufen ist.
Scheiße!
Ich muss also nochmal raus zum Supermarkt, wenn ich heute nicht verhungern will.
Ich hasse den Supermarkt!
Viel lieber würde ich jetzt den Sportteil der Zeitung lesen als raus ins Auto und dann in den dämlichen Aldi.
Mitten auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt fühlt man sich auch nicht wohler als im Innenhof des Bezirksgefängnisses. Wie ein Strafgefangener drehe ich meine Runde durch die Korridore. Es sind genau genommen fünf vertikale, die von zwei Horizontalen unterbrochen werden. Greife nach Kaffee-Pads, Toastbrot, Erdbeermarmelade, Dosen-Thunfisch und Gouda (mittelalt, Scheiben), überlege, ob ich noch eine TK-Pizza funghi einpacken soll. Gehe zur Kasse, reihe mich in die Schlange ein. Hinter mir eine 40-jährige Brünette, die hübsch anzusehen ist. Ich lächele ihr zu, sie lächelt nicht zurück. Wir stapeln beide unsere Einkäufe auf dem Band, ich versuche es nochmal mit Lächeln, sie reagiert erneut nicht. So ist es halt, denke ich, im Aldi lächeln sich Kunden nicht zu; und schon gar nicht an der Kasse.
Die Kassiererin, die mich kennt, fragt: »Auch mal wieder hier?«
»Ja«, sage ich, »auch mal wieder hier.«
Dann sagen wir beide nichts mehr, bis sie sagt: »17 Euro 43. Bar oder mit Karte?«
»Bar«, sage ich und gebe ihr einen Zwanziger.
»Hier ist Ihr Wechselgeld. Wollen Sie den Bon haben?«
»Nein danke«, sage ich.
Dann sagen wir beide nahezu gleichzeitig: »Auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal«, und ich gehe Richtung Tür. Beim Blick zurück sehe ich, wie die brünette 40-Jährige den Bezahlvorgang komplett schweigend mit der Kassiererin abwickelt und sich am Ende den Kassenbon aushändigen lässt.
Draußen auf dem Parkplatz überlege ich, dass es schön wäre, jetzt ins Auto zu steigen und einfach loszufahren. Venedig, Istanbul (da war ich noch nie) und die Pyramiden von Gizeh (wo ich auch noch nicht gewesen bin) kommen mir in den Sinn. Lebensmittel habe ich genug im Kofferraum und zwischendurch werde ich im Abstand von 300 Kilometern anhalten und Kaffee trinken, um nicht am Steuer einzuschlafen. Aber wir haben Lockdown, morgen früh bin ich zu einer Videokonferenz verabredet und mittags zu einer zweiten, sodass ich im Moment nicht wegkomme von diesem Ort. Ich werde mir alternativ die kürzeste Route nach Venedig, Istanbul und zu den Pyramiden von Gizeh in Google Maps anschauen und dann nochmal in meinem alten Diercke-Schulatlas, während ich gleichzeitig darauf achte, dass die Pizza funghi nicht im Ofen verbrennt. Denn verbrannte Pizza funghi mag ich nicht.
Ich könnte den Dosen-Thunfisch noch über die Pizza verteilen, überlege ich, während ich die Stufen zu meiner Wohnung raufsteige. Ein Dienstagabend mit Pizza funghi, dem Auswendiglernen des Wegs zu den Pyramiden von Gizeh und im Anschluss einem Himbeerjoghurt ist gar nicht so langweilig, wie er sich anhört. Auf jeden Fall nicht, wenn man vorhat, in Gedanken an die Ufer des Nils zu verreisen. In der Küche stelle ich die Tüte mit dem 17-Euro-43-Einkauf auf den Tisch und bemerke beim Auspacken, dass ich den Dosen-Thunfisch an der Kasse vergessen habe. Nochmal zurück zum Supermarkt? Auf gar keinen Fall! Soll die Brünette, die partout nicht lächeln wollte, ihn auf ihre Pizza drauf tun.
Bild von Thorsten Eisermann auf Pixabay