Tagebuch 15. November

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»Wehe, du schreibst irgendwann was über mich in dein Tagebuch. Dann …« – »Was dann?« – »Dann, dann …«

Tagebuch, Sonntag 15. November

»Du führst jetzt ein Tagebuch«, sagt sie.
»Woher weißt du, dass ich jetzt ein Tagebuch führe?«, frage ich.
»Weil ich das in Facebook gesehen habe.«
»Du liest meine Beiträge in Facebook?«
»Nicht täglich. So spannend sind deine Beiträge nun auch wieder nicht.«
»Sind wir denn da überhaupt befreundet?«, frage ich.
»Wo?«
»Na, in Facebook.«
»Nein, sind wir nicht. Aber, um deine Beiträge zu lesen, brauche ich ja nicht gleich mit dir befreundet zu sein.«
»Stimmt«, sage ich.

»Nur unglücklich verliebte Teenies und Menschen, die demnächst sterben, führen ein Tagebuch. Warum tust du das?«, will sie wissen.
»Einfach so. Hat keinen bestimmten Grund.«
»Ein grundloses Tagebuch? Hast du zu viel Zeit«?«
»Im Moment habe ich Zeit«, sage ich.
»Du solltest deine Zeit besser nutzen, als jeden Tag Tagebuch zu führen«, sagt sie.
»Wofür zum Beispiel könnte ich meine Zeit besser nutzen, als jeden Tag ein Tagebuch zu führen?«
»Zum Beispiel für dein Badezimmer. Das sieht schauderhaft aus dein Badezimmer.«
»Was ist verkehrt mit meinem Badezimmer?«
»Das sieht so nach 1985 aus. Nicht wie 2020. Schwer zu erklären. Schau’s dir selbst mal genau an. Dann verstehst du, was ich meine.«
»Und was soll ich machen, damit mein Badezimmer nicht mehr nach 1985 aussieht?«
»Was für eine Frage! Bau eine neue Duschkabine ein, wechsele die Fliesen aus, besorg dir neue Armaturen.«
»Das soll alles ICH machen?«
»Natürlich sollst DU das machen!«
»Ich bin jetzt nicht so der Handwerker.«
»Das ist allgemein bekannt. Du bist handwerklich ne komplette Niete. Weil’s dich halt Null interessiert, ob dein Badezimmer aussieht wie 1985.«
»Ich habe mir, ehrlich gesagt, noch nie Gedanken über mein Badezimmer gemacht«, sage ich.

»Komme ich vor in deinen Tagebucheinträgen?«, fragt sie.
»Wenn du sie täglich liest, kennst du die Antwort doch schon.«
»Bisher nicht. Aber wehe, du schreibst irgendwann was über mich in dein Tagebuch. Dann …«
»Was dann?«
»Dann, dann …«
»Ich würd’s verfremden«, sage ich.
»Ich will auch verfremdet NICHT darin erscheinen.«
»Ich überleg’s mir. Aber eine von außen aufgezwungene Limitierung meines kreativen Tuns gefällt mir grundsätzlich nicht«, sage ich.
»Wenn du es machst, verfremdet hin und her, rede ich ein Jahr lang nicht mehr mit dir.«
»Allzu oft reden wir doch eh nicht miteinander. Einen Riesenunterschied würde das jetzt nicht bedeuten«, erwidere ich.
»Du bist absolut skrupellos«, sagt sie und legt auf.

Nach dieser Unterhaltung ist mir die Lust auf einen neuen Tagebucheintrag für heute vergangen. Mal schau’n, ob ich morgen wieder was zustande kriege. Ich sollte vorher nicht telefonieren. Das bringt mich völlig aus dem Konzept.

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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