Tagebuch – 11. Nov. 20

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»Ich habe dich entjungfert«, sagte Ulla fünf Minuten später – »NEIN!« – »Lüg mich nicht an! Sonst jage ich dich nackt nach draußen.« – »Ja stimmt. Du hast mich entjungfert.«

Tagebuch, 11. November 20

Ein vergilbter Brief fällt aus einem Roman heraus, den ich vorhin aus dem Regal gezogen habe.
„Du verstehst doch, dass wir zwei nicht zusammenpassen“, steht darin.
„Du kannst mich immer anrufen. Aber sehen möchte ich dich nicht mehr. Das ist besser für uns beide. Das verstehst du doch?“, steht da auch noch.
Ich überlege, warum ich den Brief aufbewahrt und damals nicht verbrannt habe. Dann überlege ich, ob ich ihn jetzt verbrennen soll. Schließlich lege ich ihn wieder in das Buch hinein und stelle es zurück ins Regal.

Es war am 11. November 1979 (ich musste kurz nachdenken, ob es evtl der 11. November 1978 oder 1980 gewesen waren. Aber ich bin mir zu nahezu 100 Prozent sicher, dass es am 11. November 1979 geschah), als ich am späten Abend vor der Tür des Coconuts stand und Einlass begehrte.
»Clowns kommen hier nicht rein«, sagte der Türsteher.
»Heute sind alle Clowns«, erwiderte ich.
»Und weil heute alle Clowns sind, kommst du hier nicht rein«, sagte er.

»Dieser Clown gehört zu mir«, hörte ich eine weibliche Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, erkannte ich Ulla, die zwei Klassen über mir an derselben Schule gewesen war, die aber vor ein paar Monaten ohne Abschluss verlassen hatte und nun ihr eigenes Geld verdiente.
»Danke«, sagte ich.
»Blamier mich bloß nicht … Clowns sind so Scheiße«, antwortete sie.

An der Theke bestellte ich ein Bier.
»Trink was Ordentliches«, sagte Ulla und schob mir einen Whiskey Sour zu.
Eine halbe Stunde später knutschten wir auf dem Männerklo.
Wir tranken abwechselnd Wodka, Gin und bunte Cocktails. Ich ließ das Taschengeld eines halben Jahres beim Barkeeper. Um drei Uhr fuhren wir zu ihr. Sie hatte eine Wohnung im Haus ihrer Eltern mit eigenem Eingang.

»Du weißt, wie es funktioniert?«, fragte sie.
»Natürlich«, antwortete ich.

»Ich habe dich entjungfert«, sagte Ulla fünf Minuten später.
»NEIN!«
»Lüg mich nicht an! Sonst jage ich dich nackt nach draußen.«
»Ja stimmt. Du hast mich entjungfert.«
»Ich wusste es von Anfang an«, sagte sie, »du warst so schlecht, dass ich dich dafür schon wieder mag.« Danach schlief sie an meiner Schulter ein. Ich fühlte mich mies, schlich im Morgengrauen aus ihrem Bett und erzählte meinen Eltern beim Frühstück, dass ich bei einem Kumpel übernachtet hatte. Ob sie mir das glaubten, weiß ich nicht. Sie stellten aber keine Rückfragen, wofür ich ihnen dankbar war.

Wir vögelten nun ein- bis zweimal die Woche, meistens am Dienstag- und Mittwochnachmittag, wenn Ulla frei hatte. Ich erkundigte mich nicht nach ihrem Job, wofür wahrscheinlich sie mir dankbar war. Ulla tanzte in den Clubs der Stadt, kannte viele Männer, genoss es, mich zappeln zu lassen, versetzte mich, ging nicht ans Telefon, öffnete nicht, wenn ich zornig klingelte.

»Du bist süß, aber zu jung und außer deinem bisschen Taschengeld hast du nix im Portemonnaie«, hauchte sie im Bett und fuhr mit der Zunge durch mein Ohr.
»Leck mich!«, rief ich erregt.
»Pass auf, was du sagst«, sagte sie.
»Ich sag, worauf ich Lust habe«, schrie ich, sprang auf und lief den weiten Weg zu meinem Elternhaus zu Fuß.

Zwei Tage später lag ein Brief im Briefkasten. Ohne Briefmarke drauf; sie hatte ihn entweder selbst eingeworfen oder jemand beauftragt, es für sie zu tun. Ich las ihn drei Mal, überlegte, ob ich sie anrufen oder bei ihr klingeln sollte. Überlegte, ob sie beim Brief schreiben geweint hatte, beim Einwerfen in unseren Briefkasten kurz gezögert hatte. Nein, sie hatte nicht geweint und sie hatte auch nicht gezögert. Tränen des Zorns rannen über mein Gesicht. Ich würde sie auf gar keinen Fall anrufen. Das war schon mal sicher.

Ich ging in mein Zimmer, schloss mich ein, hörte tagelang Depri-Musik, nahm außer Alkohol, den ich mir von meinem Taschengeld kaufte, keine andere Nahrung zu mir. Meine Eltern machten sich Sorgen, wollten mich zum Arzt schicken. Nach einer Woche war das Schlimmste überstanden, die Trauer über den Verlust wich einem Leck-mich-Gefühl, ich konnte wieder essen und mich auf die Hausaufgaben konzentrieren.

Ulla habe ich seit der Nacht, als ich wütend aus ihrem Bett sprang, nie mehr gesehen. Hin und wieder hörte ich von ihr, dass sie immer noch jeden Abend in den Clubs der Stadt tanzte und viele Männer mit zu sich nach Hause nahm. Ein paar Jahre später war sie tot. Ein neues Virus, gegen das die Ärzte machtlos waren. Große Beerdigung. Am selben Abend ging ich ins Coconut, tanzte die halbe Nacht durch, trank Whiskey Sour, Wodka, Gin und klebrige Cocktails, bekam Herzstiche am Urinal, an dem wir in der Nacht des 11. November 1979 geknutscht hatten, und danach ging ich nie mehr ins Coconut.

Ich habe seitdem viele 11. November gefeiert, aber nicht mehr als Clown.
Irgendwann habe ich dann aufgehört, den 11. November zu feiern.

Ob Ulla und ich zusammengepasst hätten, überlege ich.
Irgendwie schon.
Vielleicht hat sie beim Schreiben des Briefs doch geweint und beim Einwerfen gezögert.
Was weiß ich?
Ich werde ihn auf jeden Fall nicht verbrennen.

Ich könnte demnächst ihr Grab besuchen.
Und Blumen mitbringen.
Über Blumen, die ich ihr von meinem Taschengeld kaufte, hat sie sich immer sehr gefreut.

Bild von S. Hermann & F. Richter auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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