Tagebuch – 13. Nov. 20

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Ich esse den Rest des Marmeladenbrötchens, die Marmelade tropft mitten auf Seite 10. Dann stopfe ich die Zeitung in die Mülltonne und fahre zum Supermarkt, ein neues Glas Marmelade besorgen.

Tagebuch, Freitag 13. November

Meine Augen sind weit geöffnet zur Straße hin, ich stehe am Küchenfenster, in dessen Scheibe sich dieser Novembernachmittag spiegelt, sehe der Sonne dabei zu, wie sie auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses hinter den Hügeln abtaucht mit einem Funkeln, als ob Juwelen in ihrem Licht zu Staub zermahlen werden. Von unten dringt leise das Konzert der Lieferwagen und Limousinen begleitet vom Orchester arthritischer Vögel, die die Abreise nach Afrika verpasst haben, an mein Ohr. Ich wasche mir die Hände, reibe sie an den Hosenbeinen trocken und würde mit ihnen nun am liebsten den sanft glühenden Himmel streicheln. Die bunten Mützen der Menschen, die unten vorbeigehen, sind Kometen im Feuerschein des frühen Abends.

Auf dem Fluss ertönt eine Schiffssirene. Gespenstisch abgedämpft wie in  The Fog von Carpenter. Alles leuchtet jetzt, hat Tiefe. Der Himmel explodiert in einem Farbenrausch, als wäre er Teil eines Bilds, das ein betrunkener Impressionist gemalt hat. Während im Vordergrund die Menschen lang sind, kurz sind, mit korrekt durchgestreckter Wirbelsäule oder hängenden Schultern vorbeihuschen, abwechselnd energisch, voller Tatendrang einem Ziel zustrebend oder traurig mit starker Tendenz hin zu einer Novemberdepression wirken.

Auf dem Küchentisch liegt ein angebissenes Erdbeer-Vanille-Marmeladenbrötchen von heute Morgen. Ich blättere in der Zeitung, freue mich über die Klatschnachrichten auf Seite 10, in denen vom Mülleimer-Schnüffeln Hugh Grants und über eine junge Frau, die in New York mit einem angeleinten Schwan U-Bahn fährt, berichtet wird. Ein Weihnachtsmanndarsteller hat sich den Bart abrasiert und findet jetzt keine Jobs mehr. Ihm blutet darüber angeblich das Herz, was ich aufgrund des enormen Einnahmenausfalls einerseits gut nachvollziehen kann, es jedoch andererseits völlig bescheuert finde, wenn sich ein Weihnachtsmann Mitte November den Bart abrasieren lässt und dann jammert, dass er plötzlich arbeitslos ist. Wer will schon einen glattrasierten Weihnachtsmann sehen? Das hätte sich der Kerl echt früher überlegen oder andere professionelle Weihnachtsmänner konsultieren sollen, bevor er zum Friseur ging. Ich mein, ein Autor schneidet sich ja auch nicht die Finger ab und opfert dann rum, dass er im Anschluss seine Texte mit der Nase und dem Kinn tippen muss. Ich esse den Rest des Marmeladenbrötchens, die Marmelade tropft mitten auf Seite 10. Dann stopfe ich die Zeitung in die Mülltonne und fahre zum Supermarkt, ein neues Glas Marmelade besorgen. Dieses Mal Brombeere, denn Erdbeer-Vanille hatte ich ja schon.

Bild von jamstraightuk auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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