Heute Morgen hielt ich unvermittelt zwischen Ingwer-Kurkuma-Shot und Zähneputzen inne und dachte erschrocken, wenn ich noch tiefer in den Wald der Vorstellung eindringe, dann kann ich alsbald Fiktion und Realität nicht mehr sauber voneinander trennen.
Tagebuch 26. Dezember
Heute Morgen hielt ich unvermittelt zwischen Ingwer-Kurkuma-Shot und Zähneputzen inne und dachte erschrocken, wenn ich noch tiefer in den Wald der Vorstellung eindringe, dann kann ich alsbald Fiktion und Realität nicht mehr sauber voneinander trennen. Als Kind wurde mir von Verwandten und Lehrern eine blühende Fantasie bescheinigt, obwohl nicht alle das als Lob meinten. Ich konnte mich stundenlang in Traumwelten verirren und dort Feen, Zauberern, Riesen und Donald Duck begegnen. Bei Deutschaufsätzen war diese Gabe manchmal hilfreich, nicht jedoch für Mathematik und Erdkunde. Weil sich aber niemand dauerhaft in einer Traumwelt aufhalten kann, ohne Gefahr zu laufen, dort zu verhungern, studierte ich was Solides und übte im Anschluss einen ordentlichen Beruf aus. Da es tagsüber erfahrungsgemäß schwierig ist, am Schreibtisch, vor sich eine Excel-Statistik und eine Word-Tabelle liegend, große Fantasien zu entwickeln, bastelte ich mir meine Traumgebäude nun zunehmend abends unter Zuhilfenahme von Bier und Wodka. Als sich die schönen Träume im Lauf der Jahre in Albträume verwandelten und ein Arzt mir glaubhaft versicherte, dass ich meinen nächsten Geburtstag nicht erleben werde, stoppte ich damit. Das ist nun zehn Jahre her, und ich widme mich seitdem wieder Excel-Statistiken und Wordtabellen, die heute zwar hübscher aussehen, aber inhaltlich dasselbe trockene Zeug beinhalten wie die Statistiken und Tabellen der 90-er Jahre.
Die Wälder, die ich als Kind betrat, waren dunkelgrün. Es wimmelte in ihnen von Fabelwesen und Comic-Figuren. Ich schrieb darüber kleine Aufsätze, die meiner Mutter gefielen (»Er wird ein großer Schriftsteller werden«) und meinem Vater die Sorgenfalten auf die Stirn trieben (»Er wird arm wie eine Kirchenmaus unter einer Brücke hausen«). Die dunkelgrünen Landschaften erblicke ich heute in Netflix und Amazon Prime. Nicht so sehr in Facebook; das ist überwiegend harte Prosa, die ähnlich auf mich wirkt wie früher eine Runterkomm-Pille nach einem 72-stündigen 4-Promille-Rauschzustand. Es gibt Filme, in denen spiele ich mit, und wenn mir das Ende nicht gefällt, denke ich es im Anschluss um. Ich träume davon und brauche mitunter im Badezimmer ein paar Minuten, um zu begreifen, dass mein Treffen mit Jessica Alba in Into the Blue nur ein Nachtgespinst war, und das zerknitterte Gesicht im Badezimmerspiegel die harte Realität darstellt.
Was, wenn meine (noch) schönen Netflix-Träume sich demnächst ebenfalls in Albträume verwandeln? Ich, statt Jessica Alba in Into the Blue zu treffen, von einem Blues-Brothers-Fluchtwagen überfahren, von einem Terminator 2-Querschläger im Kopf getroffen, unter einer 2012-Felslawine zerquetscht, Opfer einer Stirb-langsam-3-Gasexplosion werde, mir beim gemeinsamen Sprung vom Dach eines Hochhauses mit Mel Gibson in Lethal Weapon das Genick breche, beim Con-Air-Flugzeugabsturz verbrenne? Darf ich dann nie wieder Netflix und Amazon anschalten? Die alleinige Vorstellung an diese zweite Abstinenz nach der ersten Abstinenz lässt mich schaudern.
Dagegen hilft Schreiben.
Nachdem ich diesen Tagebuch-Eintrag getippt habe, bin ich auch längst nicht mehr so erschrocken wie heute Morgen zwischen Ingwer-Kurkuma-Shot und Zähneputzen.
Bild von Stefan Keller auf Pixabay