Tagebuch 6. Dezember

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Du musst zugeben, sagt Przibilla, der neben mir geht, das ist ein guter Moment, um ein Gedicht zu schreiben.

Tagebuch, 6. Dezember

Wieder dieser Traum vergangene Nacht
ich stapfe einen verschlammten Weg entlang
in einer endlosen Reihe graugesichtiger Männer
am Rande einer niedergeschlagenen Stadt
die wir im Kreis umrunden
knöcheltief durch ölige Pfützen
Morgengrauen fahl und neblig

wir marschieren stumm: seit Stunden ohne Rast
in zerschlissener Kleidung
du musst zugeben, sagt Przibilla
der neben mir geht
das ist ein guter Moment
um ein Gedicht zu schreiben
ja, antworte ich und zähle die Schritte
einemillionzweihundertdreiundvierzigtausendfünfhundertsiebenundsechzig

du bist frei, zu schreiben, was immer dir einfällt
auch den größten Schwachsinn, fährt Przibilla fort
du brauchst keine Angst vor dummer Kritik zu haben
das ist der Vorteil
wenn du dich im Traum in deinem eigenen Gedicht befindest
einemillionzweihundertdreiundvierzigtausendfünfhundertzweiundsiebzig

es beginnt zu regnen: schwere blaue Tropfen
die auf meiner Nase zerplatzen
ich blicke nach oben, schließe die Augen
als ich sie wieder öffne, sind wir zu zweit: Przibilla und ich
fang endlich an, sonst ist der Traum gleich zu Ende!

lasse mich in den Schlamm fallen
fingere Kugelschreiber und Notizblock aus meiner Jackentasche
Gedicht im Traum, der keinen Anfang hat
ich setze einen Punkt
schaue zurück: Przibilla hat das Gedicht verlassen
niemand mehr da, dem ich es vorlesen kann

Bild von Benjamin Balazs auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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