Tagebuch 5. Dezember

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Während mir der Dezemberregen in den Nacken und die Schuhe läuft, denke ich an dich, Pfeilgift und daran, dass ich mir gestern die Fußnägel schneiden wollte …

Tagebuch, 5. Dezember

Wenn abends kalter Dezemberregen fällt
ich mit hochgeschlagenem Kragen
durch ölglänzende Pfützen und über vollgepisste Bürgersteige
haste
kann ich, vorausgesetzt, ich hebe meinen Blick
alte Männer in den Fenstern sehen
wie sie auf die dunkle Straße starren
mit ihren Gedanken in versunkener Zeit
als sie noch ohne Viagra lieben konnten
und die Helden ihres Viertels waren
jetzt warten sie bloß noch auf den Tod

während mir der Regen
in den Nacken und die Schuhe läuft
denke ich an dich, Pfeilgift und daran
dass ich mir gestern die Fußnägel schneiden wollte
Nebel sickert herein
dämpft ab, zeichnet weich
verpackt die Häuserschlucht in Kinderwatte
die alten Männer
hinter den Vorhängen
sterben
mit einem Lächeln auf den Lippen
denn ihre Schuld ist lange vergeben

aus einem U-Bahnschacht heraus
sende ich dir eine Nachricht
erzähle eine Geschichte
damit du schöne Träume hast
und während ich tippe
strahlen meine Augen blauer
als alle blauen Augen
in dieser hässlichen Stadt

du wirst nicht antworten
daran habe ich mich gewöhnt
doch wenn du mich verhöhnst
mein Gedicht achtlos wie Schaben in der Küchenspüle zerquetschst
bevor du dich in die Arme eines anderen wirfst
werde ich als Buckliger
durch deine Träume hinken
mich von dir beschimpfen und bespucken
blutig kratzen und zerstückeln lassen
denn das mutet tröstlicher an als
dich für immer zu verlieren
du wirst mich auch dann nicht erkennen
weil wir uns nie begegnet sind

als ich die U8 betrete
lösche ich alles
an wen soll ich es schicken?
du würdest es eh nicht begreifen
und ich will es sowieso schon gar nicht!
Vorhang zu
mit einem Lächeln auf den Lippen sterben
zurück zu Hause
werde ich aus den nassen Klamotten steigen und
mir die Zehennägel schneiden
kalter Regen prasselt an die Scheiben

Bild von Stefan Kuhn auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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