Eurogrill 2000

You are currently viewing Eurogrill 2000

Ich komme von einer Sitzung mit meiner Therapeutin, treffe René, der mir nen Joint anbietet, lerne dabei Tanja aus dem Methadonprogramm kennen, spendiere der vier Pullen Oettinger, die sie, anstatt die Plörre zu trinken, wutentbrannt nach mir wirft. 

»Das war’s dann für heute. Wir müssen Schluss machen, Herr Hirsch. Der nächste Patient wartet bereits.«
»Okay, dann sehen wir uns nächste Woche wieder, Frau Schneider.«
»Um dieselbe Uhrzeit. Und vergessen sie nicht, ihre Hausaufgaben mitzunehmen.«
»Ja, tue ich. Auf Wiedersehen.«

Die Sitzung bei der Suchttherapeutin hatte exakt fünfundzwanzig Minuten gedauert. Das übliche Gewäsch. Wie ich die letzten sieben Tage verbracht hatte, mein aktuelles Befinden, ob ich glaubte, auch die kommende Woche ohne Drogen zu überstehen. Wie ich mir überhaupt die Zukunft vorstellen würde. Ich hatte all diese Fragen schon so oft gehört und beantwortet. Es war mittlerweile ein wirklich todlangweiliger Dialog geworden. Warum ging ich da überhaupt noch hin? Ich zerriss die mitgenommenen Aufgabenblätter und verteilte die Schnipsel in drei verschiedene Papierkörbe.

Wiedersehen mit René, der mal wieder auf dem CIA-Kanal unterwegs ist
Auf dem Parkplatz kam mir Hans-Jürgen entgegen. Von uns Patienten wurde er Das Megaarschloch genannt. Er war von allen übellaunigen Pflegern der geschlossenen Abteilung der mit Abstand bösartigste. Kontrollierte bei jeder Einlieferung penibel sämtliche Körperöffnungen auf etwaige Drogen. Als ob ich eine Dose Bier in meinem Hintern verstecken würde. Es war sinnlos, mit ihm darüber zu diskutieren. Er grinste, streifte seinen Gummihandschuh über, und los ging die entwürdigende Prozedur. Wir hassten ihn aus tiefstem Herzen. Ich hatte ihn im vergangenen Jahr auf den Spitznamen The missing link getauft. Wegen seines merkwürdigen Gesichtsausdrucks, der an eine Übergangsspezies zwischen Neandertaler und Homo Sapiens erinnerte. Seitdem kicherten die meisten von uns, wenn er auftauchte. Das passte ihm gar nicht. Wir grüßten uns stumm mit einem Kopfnicken.

Ich schlenderte in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Es war ein lauer Frühlingsnachmittag. Vielleicht würde ich nachher noch an den Fluss fahren, um dort eine Runde auf meinen Inlinern zu drehen. Ich gelangte so langsam in die Nähe der seit Urzeiten in dieser Straße betriebenen Grillstation. Hier hatte ich schon zusammen mit meiner Mutter Currywurst mit Fritten gegessen. Früher hieß der Laden: Zum Fresseck. 1999 hatte er sich wegen der Jahrtausendwende leicht großspurig in Eurogrill 2000 umbenannt. Ein beliebter Treffpunkt von Taxifahrern, Trinkern und Junkies. Sollte ich mir noch ein Eis kaufen? Warum nicht? Ich würde die Kalorien ja am Abend wieder abtrainieren. Vor der Eingangstür saß René auf dem Bürgersteig. Ich kannte ihn von zahllosen Entzügen her. Er war einer von der freundlichen Sorte. Immer gut gelaunt. Er stand in dauerndem Kontakt zu Geheimdiensten in aller Welt. Ich mochte ihn.

»Henning, was machst du denn hier? Lange nicht gesehen.«
»Naja, unsere letzte gemeinsame Entgiftung ist etwa zwei Wochen her. Will mir gerade ein Eis kaufen. Soll ich dir was mitbringen?«
»Wenn du mich so fragst: gerne. Ein Bier.«
»Mache ich. Halt mir derweil den Platz neben dir frei.«

Drinnen war viel los um diese Uhrzeit. Ich angelte ein Magnum aus der Tiefkühltruhe und nahm zwei Flaschen Bitburger für René mit. Der kauerte versunken mit seinem alten Transistorradio am Straßenrand.

»Hier dein Bier. Was hörst du da?«
»IRIB 3.«
»Was ist das? So ein Moslemsender?«
»Radio Teheran. Verschlüsselte Nachricht zum Atomprogramm. Muss ich nachher an die Israelis weitergeben.«
»Ach so. Ist Bitburger okay?«
»Super. Hast ja zwei Flaschen mitgebracht. Komm, lass uns teilen.«
»Wollte eigentlich sauber bleiben.«
»Mach nicht so ein Theater, Henning. Eine Pulle wird dich schon nicht umhauen.«
»Hast eigentlich Recht, René. Na dann: Prost!«

Tanja aus dem Methadonprogramm
»Eh, Typ. Spendierst du mir auch ein Bier?«

Das war eine tiefe, rauchige weibliche Stimme schräg hinter mir.

»Henning, die meint dich.«

Ich drehte mich um. Was ich erblickte, gefiel mir. Mein Alter minus zehn Jahre. Lange dunkelbraune Haare. Dunkler Teint. Schätzungsweise einssiebzig groß. Fünfundfünfzig Kilogramm. Sie saß auf einem Blumenkübel, zog an einer Zigarette und passte in mein Beuteschema.

»Henning oder wie auch immer du heißen magst, sei so nett und hol mir drei, vier Flaschen.«
»Mache ich glatt, und wer bist du?«
»Tanja. Aber sei jetzt nicht so neugierig. Tu einfach, was ich dir sage. Danach unterhalte ich mich vielleicht mit dir.«

Ich kehrte nach zehn Minuten mit vier Warsteiner zurück.
»Das hat aber lange gedauert. Lässt du Frauen immer warten?«
»Da war eine ziemliche Schlange an der Kasse.«
»Quatsch nicht so viel rum. Los gib mir schon die erste Pulle. Was ist das? Gottverdammtes Warsteiner und dann auch noch kalt. Das trinke ich nicht.«

Tanja zerschmetterte die Flasche am Rand des Betonkübels. Diese zerbarst in dutzende kleiner und mittelgroßer Glasscherben. René sprang auf und nahm die verbliebenen drei Warsteiner an sich.

»Bist du verrückt, das gute Bier einfach so wegzukippen? Du bist ja komplett meschugge.« René verlor für einen Moment die Beherrschung.

»Ich hasse Warsteiner. Ich trinke nur Oettinger. Und warm.«
»Das ist dein Ernst? Du willst warmes Oettinger?« Ich wollte es kaum glauben.
»Hast du es an den Ohren? Ich habe einen empfindlichen Magen. Ich vertrage nichts anderes.«
»Schon gut. Beruhige dich. Ich besorge dir neues Bier.«

Als ich wieder auf die Straße trat, drehte sich René gerade einen Joint.
»Willst du mal ziehen Henning? Ist guter Stoff.«
»Lass gut sein. Ich bekomme von dem Zeug immer Durchfall. Bleibe lieber beim Bier. Wo ist Tanja abgeblieben?«
»Die steht dahinten mit einer Bekannten. Scheinen Streit zu haben.«
»Worüber?«
»Geht – glaube ich – um einen Bubble.«
»Ups. Die ist auf Schore?«
»Das siehst du doch von weitem, Henning. Die nimmt am Methadonprogramm der Klinik teil.«
»Gut zu wissen.«

»Tanja, hier dein Oettinger.«
»Verpiss dich.«
»Das klingt leicht undankbar.«
»Ich hab im Moment andere Sorgen.«
»Kein Thema. Dann lass dich mal nicht stören.«

Tanja knallt plötzlich völlig durch, und die Polente erscheint
»René, was machen wir jetzt mit der gottverdammten warmen Brühe?«
»Gib mir noch ein paar Euro, und ich tausche die in kaltes Bitburger um.«
»Gute Idee.«

Wir machten es uns auf dem freigewordenen Blumenbeet bequem.
»Henning, ein guter Rat von mir: Lass die Finger von Tanja.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich habe deinen Blick gesehen. Die gefällt dir.«
»Ist ganz attraktiv.«
»Und du holst dir in der ersten Nacht einen Tripper und spätestens beim zweiten Mal bist du HIV positiv«
»Meinst du wirklich, dass es so schlimm ist?«
»Sag nachher bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Tanja löste einen lockeren Pflasterstein aus dem Bürgersteig heraus und warf den nach ihrer Bekannten. Das Schaufenster des Eurogrills splitterte. Binnen drei Minuten waren zwei Streifenwagen vor Ort und nahmen die beiden sich immer noch streitenden Frauen in Gewahrsam.

René und ich hatten derweil die Straßenseite gewechselt. Keiner von uns verspürte Lust auf langwierige Gespräche mit den Bullen. Tanja hatte sich die Suppe schließlich alleine eingebrockt. Was ging uns das an?

»René, lass mich doch mal an deinem Joint ziehen.«

Bild von MichaelGaida auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

Schreibe einen Kommentar