Abgestiegen

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Wiedersehen mit einem Kumpel aus gemeinsamen Jugendtagen, der beinahe Fußballprofi geworden wäre mit traurigem Finale auf der Bahnhofstoilette.

Samstagabend. 19.25. Bahnhofsvorplatz.
Missmutig rührte ich in meinem halbkalten Cappuccino. Vor zwei Stunden war der FC endgültig abgestiegen. Nicht, dass wir Fans davon überrascht worden wären. Neun mickrige Punkte aus siebzehn Partien sprachen eine deutliche Sprache. Das war die katastrophalste Rückrunde, an die ich mich erinnern konnte. Und ich beobachte die Geißböcke schon seit den Siebzigern. Wo waren sie geblieben: die glorreichen Zeiten von Overath, Flohe, Häßler und Littbarski? Lange vorbei; Schnee von gestern.

Trotzdem hatten wir bis zu diesem 34-sten Spieltag auf das Minimalziel Relegation gehofft. Selbst diese Chance hatte die traurige Truppe kläglich vergeigt. Früher wären mir die Tränen an so einem Abend in die Augen gestiegen. Heute war ich einfach nur schlecht gelaunt. Das war es schon. Der Verein, dessen Farben ich einst mit der Muttermilch eingesaugt hatte, schaffte es nicht einmal mehr, großartige Emotionen in mir hervorzurufen.

»Hi Henning. Kann ich mich zu dir setzen?« Wer wollte da was von mir? Sah der Kerl nicht, dass ich in diesem Moment keinen Bock auf nutzloses Labern hatte?

Der Kumpel, der beinahe Profispieler geworden wäre

»Robi, wo kommst du denn her? Lange nicht gesehen.« Jetzt hatte ich meinen früheren Klassenkameraden erkannt. Passend zum Saisonfinale gekleidet in den Vereinsfarben. Sogar die roten Schuhe à la Podolski hatte er sich zugelegt. Gefiel mir.
»Ich war viel unterwegs. Mal hier, mal da.«
»Hast du den grausamen Kick gesehen?« Robi war früher ein begnadeter Jugendspieler gewesen. Der mit Abstand Beste unserer Jahrgangsstufe. Wurde bereits mit fünfzehn von den Spähern der großen Clubs beobachtet. Mit siebzehn sollte er seinen ersten Profivertrag unterschreiben. Er entschied sich aber für ein Germanistikstudium und Party feiern.
»Ich stand vor dem Stadion. Habe keine Karten mehr bekommen. Und du, Henning?«
»Ich war da mit einem meiner Söhne. Er hatte über seinen Trainer zwei Plätze für uns organisiert. Gerade ist er mit seinen Jungs in einer anderen Kneipe.«
»Ist das elende Lumpenpack endlich abgestiegen. Ich konnte die charakterlosen Typen nie leiden. Sollen sie die alle verkaufen oder verschenken.« Robi als Urkölner war erregt. Verständlich. Er zitterte etwas, als ob er sich auf Entzug befand und machte einen hageren Eindruck auf mich. Seine Zehnkämpfer- Phase schien vorüber zu sein. Er hatte früher einen Body wie Jürgen Hingsen besessen.
»Ein paar von denen werden sie schon behalten müssen. Wo soll der Pleiteverein auf die Schnelle zwanzig neue Kicker herbekommen?«, entgegnete ich.
»Aus der eigenen Jugend. Das war doch früher immer unsere Stärke.« Er sprang aufgebracht von seinem Stuhl auf und fuchtelte wild mit den Armen herum.

»Echt lange her. Und nur mit siebzehn- und achtzehnjährigen Milchbubis gehst du auch in der zweiten Liga baden. Zumindest den Torwart und den Mittelstürmer sollten sie behalten. Den Rest können sie von mir aus in die Wüste schicken.«
»Gibt’s hier außer Kaffee noch was anderes im Angebot?«
»Du hast Durst? Ich geb‘ dir einen aus. Was möchtest du haben?«
»Ein Kölsch. Aber ein großes.« Robis Pupillen weiteten sich.
»Hole ich dir drinnen an der Theke. Das funktioniert schneller.«
»Und du, Henning: trinkst du nichts auf den Frust?«
»Bin mal wieder dabei, es mir abzugewöhnen
»Ja ja, kenne dein Problem. Ist sicherlich vernünftig, wie du das durchziehst.« Für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich, Trauer in Robis Gesicht zu entdecken.

Hooligans & Ultras vor dem HBF

Vor dem Bahnhof war im Augenblick die Hölle los. Die Fans strömten zu den Zügen, um rechtzeitig zum ARD-Sportstudio zu Hause zu sein. Einige Hooligans hatten sich zusammengerottet und hielten Ausschau nach den Ultras der Gastmannschaft. Die waren aber bereits vor einer knappen Stunde von der Polizei in die abfahrbereiten Züge nach München gesetzt worden. Auf beiden Seiten wurden laute Schlachtgesänge angestimmt. Üble Beschimpfungen flogen von links nach rechts und zurück. Die Ordnungskräfte zeigten starke Präsenz. Überall Bullen. Sogar zu Pferd. Die Stimmung war gereizt.
Ein kleiner Funke würde genügen, um die angestaute Wut zur Explosion zu bringen. Ich kam mit einem Nullvierer-Bier und einer weiteren Tasse Kaffee zurück an unseren Tisch. Robi beobachtete mit Interesse die Szene auf dem Platz.

»Glaubst du, dass hier gleich noch was abgeht, Henning?«
»Hoffe nicht.«
»Du bist alt geworden. Früher hättest du mitgemacht.«
»Ist lange her. Wir werden alle ruhiger.«
»Stimmt, ich habe auch keine Lust, mich mit diesen Schwachköpfen zu prügeln. Das sind ja gar keine richtigen Fans. Denen geht es nur um die Randale.«
»Da hast du vollkommen recht.« Ich schaute auf die Uhr. In dreißig Minuten fuhr unsere S-Bahn.

Robi war in den Siebzigern und Achtzigern ein gefürchteter Schläger bei uns in der Südkurve gewesen. Der nahm es mit drei Gladbachern oder vier Schalkern gleichzeitig auf. Wobei man ihm zugutehalten musste, dass er immer Gleichgesinnte für seine Kämpfe aussuchte. Er war keiner von denen, die harmlose Fans verprügelten.

»Hast du den Rauch im Stadion mitbekommen, Henning?«
»War ja nicht zu übersehen.«
»Hattest du Angst?«
»Wovor: vor ein bisschen Qualm? Da gibt’s Schlimmeres im Leben.«
»Die Spieler sind alle panisch in die Umkleide geflitzt. Haben sich anscheinend in die Hosen gemacht.«
»Und sind danach sang- und klanglos durch einen Nebenausgang verschwunden. Alles Weicheier. Mit denen gewinnst du keinen Blumenpott.«
»Da sind wir uns ja einig, Henning. Wie in den guten alten Zeiten.«

Noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.
»Robi, war nett, dich mal wieder zu sehen. Ich muss jetzt weg. Bin gleich mit meinem Sohn auf dem Bahnsteig verabredet.«
»In welche Richtung musst du, Henning?«
»Nach Süden.«
»Trifft sich gut. Dann fahre ich ein paar Stationen mit euch mit. Kannst du mir drei Euro für die Fahrt pumpen? Ich bin blank.«
»Natürlich.«

Bahnhofshalle. 20.15.
»Henning, wartest du einen Moment auf mich? Ich muss nochmal pissen. Das viele Bier will raus.«
»Kein Thema. Ich blättere derweil in den Zeitungen am Kiosk.«

Im Bahnhof quirlten die Menschen wild durcheinander: Wochenendausflügler, Touristen, Samstagsshopper und überall Fußballfans. War schwer, sich da nicht aus den Augen zu verlieren. 20.25: Was trieb Robi? So lange konnte es doch nicht dauern, um für ein paar Minuten zum Pinkeln zu verschwinden. Das Telefon klingelte.  Mein Sohn meldete sich.

»Hi Papa, wo bleibst du? Ich bin schon am Zug.«
»Ich habe zufälligerweise einen Schulfreund getroffen. Der will in unsere Richtung mitfahren. Hat sich vor knapp einer Viertelstunde aufs Klo verdrückt und kommt seitdem nicht zurück. Wer weiß, was der da anstellt. Jetzt auch egal. Dann düsen wir eben ohne ihn los. Ich bin sofort bei dir. «
»Schau lieber mal nach, Papa. Vielleicht ist dem was zugestoßen.«
»Was soll dem schon passieren? Ist ein Baum von einem Mann. Aber in Ordnung. Ich kümmere mich darum. Hast du noch einen Moment Zeit? Dann nehmen wir die nächste Bahn.«
»Ist okay. Ich besorge mir inzwischen eine Currywurst.«

Trauriges Finale auf der Bahnhofstoilette

Ich fingerte fünfzig Cent aus meiner Hosentasche, warf die Münze in den neu installierten Automaten des Bahnhofs-WCs, trat in den blaugekachelten Raum ein und durchforstete mit meinen Blicken jeden Winkel dieses traurigen Orts. Ich konnte Robi weder an den Waschbecken noch vor den Urinalen entdecken. Wo steckt der Typ bloß?, überlegte ich.
Hatte der sich einen jungen Stricher geangelt und war mit dem auf und davon? Am Hauptbahnhof wäre das nicht undenkbar gewesen. Ich schlenderte den Gang mit den abgetrennten Boxen entlang. Starrte dabei auf den Boden und versuchte, die farbigen Nikes von Robi aufzuspüren. An Kabine fünf wurde ich fündig. Ich erspähte knallrote Sportschuhe; allerdings mit den Sohlen nach vorne zur Tür gewandt. Verfluchter Mist, das sieht nicht gut aus. Ich hämmerte gegen die Tür.
»Robi, ich bin’s, Henning. Alles in Ordnung bei dir?«

Nichts rührte sich. War Personal in der Nähe? Niemand auf die Schnelle aufzutreiben. Ich schnappte mir am Eingang den verwaisten Stuhl des WC- Wächters, schleppte ihn vor Tür Nr. 5, stieg hinauf und schaute von oben in die Kabine. Robi saß mit gespreizten Beinen neben der Kloschüssel, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht verzerrt. Den rechten Ärmel hochgekrempelt. Neben sich ein Spritzbesteck.

»Ey, du perverser Spanner. Was treibst du da oben?« Ein junger Typ, der nicht mehr nüchtern war, stand plötzlich neben mir.
»Lass mich in Ruhe. Ich habe im Moment andere Sorgen.«

Draußen traf ich auf eine Polizeistreife.
»Kommen Sie schnell. In der Toilette liegt ein toter Junkie. Kabine fünf.«

Ich rief meinen Sohn an.
»Du brauchst nicht auf mich zu warten. Fahr ruhig vor. Ich komme später nach.«
»Was Übles passiert mit deinem Bekannten?«
»Kann man so sagen. Er wird uns auf jeden Fall nicht mehr begleiten.«

Scheißtag.

Bild von Michal Jarmoluk auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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