Tagebuch – 14. Nov. 20

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Mehr als zwei Jahre habe ich nicht an dich gedacht. Das letzte Gedicht hatte ich dir 2015 gewidmet. Mein Leben hat sich seither ziemlich verändert. Doch ich bin immer noch derselbe.

Tagebuch, 14. November 20

Mehr als zwei Jahre habe ich nicht an dich gedacht.
Das letzte Gedicht hatte ich dir 2015 gewidmet.
Mein Leben hat sich seither ziemlich verändert.
Doch ich bin immer noch derselbe.
Schriftsteller hatte ich zwischenzeitlich werden wollen.
Aber das war Gottseidank nur eine kurze Fantasterei, die schnell wieder verflog.
Überall liegen Zettel auf dem Tisch und auf dem Boden, voll mit angefangenen Gedichten und Geschichten, die ich nie fertig schreiben werde. Und eröffnen Blicke in mich selbst, die mich denken machen an dich.

Das Leben, das ich mit dir geführt habe, liegt lange zurück: unbekümmert, fröhlich, nicht für morgen planend. Manche Gedichte, auch wenn ich sie niemals vollenden oder gar veröffentlichen werde, versetzen mir einen kurzen Stich ins Herz. Ich bin heute zu melodramatisch; verzeih mir!

Hinter mir liegt ein langweiliger Samstag: Corona, Lockdown, einkaufen gehen, putzen, die Wochenendausgabe der Zeitung studieren: Trump weigert sich beharrlich, seine Niederlage zu akzeptieren, Cummings verlässt Downing Street, das RKI mahnt wegen nach wie vor hoher Infektionszahlen weiterhin zur Vorsicht, in Äthiopien herrscht Bürgerkrieg, die Bayern verlängern nicht mit Boateng. Alles interessant und auch wieder nicht so interessant, weil schon hundert Mal woanders gelesen. Und dann weit hinten, irgendwo im Niemandsland zwischen Feuilleton und dem Kreuzworträtsel ein s/w-Bild einer mir unbekannten italienischen Schauspielerin, das mich an dich erinnert. Also an dich, wie du früher aussahst. Heute siehst du anders aus. Wir sind uns ja mal zufällig vor zwei Jahren im Supermarkt über den Weg gelaufen. Und haben fünf Minuten lang, eingesperrt zwischen Kaffeepulver und Tiefkühlspinat, angestrengte Konversation betrieben. Wie ich sowas hasse: angestrengte Konversation mit jemand, bei dem ich früher nie nachdenken musste, was ich sagte, sondern einfach drauflos reden konnte. Und wenn es Unsinn war, was häufig vorkam, dann lachten wir beide darüber. Nun ja, die Zeiten ändern sich. Aber das schrieb ich bereits weiter oben.

Das Leben ist ein Supermarkt: wir kaufen, bieten uns an, geben, nehmen, nehmen, geben, verhandeln unseren Preis. Laufen, kämpfen, trinken, essen, verdauen. Mehr ist es nicht, fragst du mich? Früher war es mehr zwischen uns, antworte ich dir; aber heute sind wir auf den Supermarkt reduziert.

Das war ich gestern: Leidenschaft, Feuer, Fortsetzungsroman.
Das bin ich heute: Teflon, Mikrowelle, der Sportteil der Tageszeitung.

Manchmal will ich vom Balkon runter alles aus mir herausschreien.
Ich tu’s aber nie.

Mein Leben hat sich geändert, seitdem wir nicht mehr zusammen sind.
Und ich – ich bin heute wirklich zu melodramatisch.
Wird nicht wieder vorkommen.
Vielleicht, wenn wir uns demnächst im Supermarkt begegnen.
Obwohl ich danach den Supermarkt gewechselt habe.

Bild von MichaelGaida auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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