Ich bin der Wodka früh um acht, der dir starke Beine macht, die Lippen bin ich, die du küsst, bin die Droge stets vermisst …
Tagebuch 24. November
Heute Mittag fuhr ich versehentlich, weil das Navi es so wollte und ich nicht aufgepasst hatte, nach Jahren mal wieder an deinem Haus vorbei. Obwohl ich es seit Jahren vermeide, an deinem Haus vorbeizufahren und lieber 100 Kilometer Umweg in Kauf nehme, anstatt dein Haus von vorne, von hinten oder von der Seite zu sehen. Ich befürchtete emotional schon das Schlimmste, aber es passierte gar nichts großartig mit mir, als ich an deinem Haus vorbeifuhr. Vielleicht schnellte mein Puls kurz in die Höhe. Falls ja: dann aber nur eine klitzekleine Amplitude, nahezu unmerklich und an der nächsten Ampel bereits wieder vorbei und alles im Normalbereich. Als ich zurück an meinem Schreibtisch war, erinnerte ich mich an ein Gedicht, das ich damals, als mein Herzschlag noch wild galoppierte, sobald du in der Nähe warst, für dich geschrieben hatte und dir oft vorlesen musste, da du es so gerne aus meinem Mund hörtest:
| Verlangen
Ich bin dein Opium auf Rezept
das raffiniert am besten schmeckt
ich bin der Wodka früh um acht
der dir starke Beine macht
die Lippen bin ich, die du küsst
bin die Droge stets vermisst
ich war, ich werde sein, ich bin
die anschmiegsame Tänzerin
der Ozean, der dich gebiert
ich bin der Schlund, der nach dir giert
die Benzos bin ich, die du schluckst
der pralle Arsch, nach dem du guckst
ich bin die Nutte vom Autostrich
das Bild, das deiner Verflossenen glich
ich bin die Faust, die auf dich drischt
dein Leben hab ich aufgemischt
… und die dich in die Hölle schickt
ich bin der Teufel, der dich fickt
ich bin der Anfang und das Ende
der giftge Pfeil in deiner Lende
der Absinth, an dem du abends nippst
bevor du aus den Schuhen kippst
ich bin, ich werde sein, ich war
dein Dämon aus der Zombie-Bar
inspiriert von Enzensberger
…
PS. Ich werde meinem Navi ab sofort verbieten, mich nochmal durch deine Straße zu lotsen. Man muss Experimente, auch wenn sie gut ausgegangen sind, nicht unbedingt wiederholen und vor allem hatte ich damals geschworen, NIE mehr einen Fuß vor deine Tür zu setzen. Und an diesen Schwur werde ich mich bis ans Lebensende halten.
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay