Tagebuch 18. November

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Als ich klein war, hatte ich viele Väter, es waren coole Väter, und ich mochte sie lieber als meinen eigenen Vater, der immer hinter Büchern saß.

Tagebuch, Mittwoch 18. November
Ich komme gerade vom Friedhof zurück, wo ich anlässlich des Hochzeitstags meiner Eltern ein paar Blumen hingebracht habe und am Grab in Gedanken oft in meine Kindheit zurückreise:

Als ich klein war hatte ich
viele Väter

es waren coole Väter
und ich mochte sie

lieber als meinen eigenen Vater
der immer hinter Büchern saß

diese anderen Väter borgte ich, stahl ich sammelte sie

sie waren jung und modisch
nahmen mich mit zum Fußball

als ich älter wurde so ungefähr 18
brauchte ich sie alle nicht mehr

jetzt sah ich meinen Vater aus einem neuen Blickwinkel

ahnte mehr als ich begriff wie sehr Krieg

und die Jahre danach
ihn geprägt hatten

in seiner Kindheit Strenge und Gehorsam die Welt bedeuteten

Bombenhagel, Schützengräben zerplatzte Träume
unterdrückte Schuldgefühle

wie soll so jemand plötzlich
lieben können?

schweigend vereinbarten wir von nun an
Small Talk zu betreiben

heute an seinem Grab wünsche ich manchmal
wir hätten mehr gestritten
als aneinander vorbeizureden.

Bild von Lubos Houska auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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