Tagebuch 19. November

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„Ich mache jetzt in Grabsteinen“, sagt Jupp – „Ist das ein gutes Geschäft?“, frage ich – „Weiß nicht. Bin noch dabei, das Business aufzubauen“, erwidert Jupp.

Einmal im Monat treffe ich Jupp auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, wo wir beide 2x/ Woche unsere Lebensmittel besorgen. So auch heute wieder.

„Ich mache jetzt in Grabsteinen“, sagt Jupp
„ist das ein gutes Geschäft?“, frage ich
„weiß nicht. Bin noch dabei, das Business aufzubauen“
Jupp redet laut
manchmal schreit und lacht er grundlos
als ob er einen leichten Hau weg hat
„woher bekommst du das Material?“
„vom Friedhof“
„???“
„die ausrangierten, wo die dreißig Jahre rum sind“
„du willst gebrauchte Steine verkaufen?“
„warum nicht? Sterben tun sie jeden Tag. Und die
Leute werden immer preisbewusster“

Jupp ist ein gewitzter Typ
wenn ich ein paar Skier benötige
treibt er sie auf
in der richtigen Form und Länge
bloß mit den dazugehörigen Schuhen gab’s Probleme
„weil ihr in eurer Familie so komische Füße habt“
hatte er erklärt
er besorgt begehbare Einbauschränke
Dieselpartikelfilter und 100er-Diazepam
fährt einen klapprigen Lada-Kombi
trägt am liebsten uralte Armeeklamotten
geht um halb zehn ins Bett
um Strom für die Beleuchtung zu sparen

eigentlich müsste er ein steinreicher Mann sein
wenn er nicht quartalsweise einen Rappel bekäme
dann trinkt er eine Pulle Wodka auf ex
im Anschluss mit dem Taxi ins Eroscenter
dort lässt er die Puppen tanzen
um fünf Uhr morgens werfen sie ihn raus
um zig tausend Euro erleichtert
wir haben ihn schon einige Male in der Frittenbude
gegenüber eingesammelt
„warum machst du den Scheiß?“
will ich auf der Rückfahrt wissen
„weil es mir Freude bereitet, und ich es mir leisten kann“
kichert er

unser Nachbar in Bonn hat seinen Porsche 992 geleast
ein Bekannter hat sich ne Designerküche auf Kredit bestellt
meine Tante brachte den ererbten Schmuck in die Pfandleihe
um die gesamte Kohle in Wiesbaden beim Roulette zu verzocken
vor dem Hintergrund all der geplatzten Kreditblasen
ist Jupp ein grundsolider Charakter
denn er verplempert bloß das
was er vorher gespart hat
ob sich die Huren im Eroscenter
darüber im Klaren sind
wenn sie ihn im Morgengrauen auf die Straße
setzen?

Bild von RJA1988 auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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