Tagebuch 20. November

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Ehrenfeld: ganze Häuserblocks verschwunden, Straßenzüge komplett saniert, der Strohhut mit Kölns besten Fritten geschlossen, die stinkende Reibekuchen-Bude abgerissen …

Tagebuch, 20. November

Heute bin ich für ein paar Stunden
nach Ehrenfeld zurückgekehrt
Zeit meiner Kindheit und Jugend
spüre kein Kribbeln, allenfalls ein wenig Nostalgie
kleine Fetzen leben wieder auf in mir
von all dem, was ich mit fünfzehn gemacht habe
Fußballspielen im Blücherpark
Sonntagnachmittag-Disco im Gemeindezentrum
des heiligen Joseph
Flaschendrehen und Zungenkuss im Partykeller
von Heikes Eltern
Petting auf Veronikas Matratze
unter dem Che-Guevara-Poster
und Prügeleien mit den Jungs aus Ossendorf

ganze Häuserblocks verschwunden
Straßenzüge komplett saniert
der Strohhut mit Kölns besten Fritten geschlossen
die stinkende Reibekuchen-Bude abgerissen
im Bahnhof riecht‘s nicht mehr nach Pisse
es sieht heute schöner aus als in den 70-ern
Studenten und Künstler haben Ehrenfeld entdeckt
Kfz-Werkstätten wurden in Galerien verwandelt
der Stadtteil wirkt sauberer, an einigen Stellen
beinahe hochdruckgereinigt
trotzdem vermisse ich den Dreck früherer Tage

südlich der Subbelrather stoße ich an vergammelte Ecken
hier haben wir heimlich Zigaretten geraucht
uns mit Lambrusco berauscht
gelacht, geknutscht und gekotzt
und zuhause die Eltern angelogen

Venloer: Mix aus spiegelndem Glas und morbidem Charme
so wie ich, nachdem ich mich von
Bart und Zopf getrennt, jetzt kurze Haare habe
ein Gesicht von heute trage
und den Schädel meines Großvaters
ich vermisse nichts

die Sprengkommandos haben ganze Arbeit geleistet
meine Kindheit wegplaniert
Erinnerungen an Familie und Freunde ausradiert
errichtet Bürotürme an ihrer Stelle
oder pflanzt ein Einkaufszentrum dort
wo einst unser Garten blühte

ich bin nicht mehr der Sohn dieses Viertels
fühle mich auf der Nussbaumer genauso fremd
wie überall sonst auf der Welt
Heimat kenne ich bloß aus Kitschromanen
stoppe vor einem Bretterzaun
blaues Plakat mit riesiger Schrift
“Hinter mir entsteht das Ehrenfeld von morgen”
und frontal grüßt ein Graffito.

Bild von Bea Jakobi auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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