Tagebuch 9. Dezember

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Die Leben, die ich geführt habe sagen mir, dass es keinen Sinn ergibt, mich vor der Zeit umzubringen …

Tagebuch 9. Dezember

| Turbomixer
Die Leben, die ich geführt habe sagen mir, dass es keinen Sinn ergibt mich vor der Zeit umzubringen. Alles ist in Bewegung und ruht zugleich. Vergangenheit und Zukunft wirbeln durcheinander wie in einem Turbomixer und verschmelzen am Ende zu einem Punkt so winzig wie das allererste Elektron.

Die Frauen werden älter. Manche – die sich einen Schönheitschirurg leisten können – blühen jenseits der 50 zum dritten Mal auf. Am Straßenrand parken teure Autos, sie ähneln mobilen Ritterburgen, sind genauso hässlich wie aufgespritzte Lippen. In meinen Eingeweiden rumort Led Zeppelin.

Schranken, an denen ich lange warten muss, hasse ich. Die Nähe von Playmobil-Figuren ist mir zuwider. Wer mag schon Bio-Currywurst und Kneipen, in denen keiner raucht?

Enzyklopädisches Wissen wird maßlos überschätzt. Ich verstehe seit Jahren nichts mehr. Vielleicht sehne ich mich nach der Liebkosung, die das Finanzsystem zum Kollabieren bringt.

Ich studiere das Feuilleton; die Kritik ist noch dümmer als der Roman, den sie zerreißt. Klugscheißer an jeder Straßenecke. Alles wiederholt sich, wurde tausendfach aufgeschrieben und eine Milliarde Mal erzählt. Warum schweigt niemand? Florenz ist immer ein lohnenswertes Ziel auf Wiedersehen!

Als ich geboren wurde, wusste ich noch nichts von Kontokorrentkrediten und Piercings im Vaginalbereich. Es gibt Gedanken, die an das Brausen eines Wespenschwarms erinnern. Meine Psychologin erklärt, dass der Schritt in den Wahnsinn für jeden Menschen bloß ein kleiner sei. Ich lese keine Bücher, die von Journalisten gelobt werden

Schön sind Texte aus Kinderhand. Ich werde verreisen, am Venice Beach alkoholfreie Cocktails schlürfen, auf der Spitze des Matterhorns die Regentropfen unter den Wolken zählen, in Wien den frühen Tod Mozarts betrauern und dabei sein Requiem hören. Ich nehme keinen Koffer mit, vielleicht eine elektrische Zahnbürste, und werde nichts vermissen außer deinem Lächeln, das Rosenblättern gleicht.

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern.

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