Es ist okay, dass du mir hin und wieder Briefe schreibst, berichtest, wie dir zumute ist; das ist vernünftiger, als dir mit Rasierklingen die Pulsadern aufzuritzen …
Tagebuch 28. November
Es ist okay, dass du mir
hin und wieder Briefe schreibst
berichtest, wie dir zumute ist
das ist vernünftiger, als dir
mit Rasierklingen die Pulsadern aufzuritzen
oder Zigaretten auf den Oberschenkeln
auszudrücken
ich öffne die Umschläge abends
nach dem Büro
während ich tiefgefrorene Fusilli Bolognese
mit einem Holzlöffel in der Pfanne
wende und aufpasse
dass sie nicht zu sehr anbrennen
denn dann schmecken sie nicht mehr
es ist wenig, was ich für dich
tun kann
außer stumm deine Zeilen zu lesen
und den Brief danach in die Schublade
mit den hundert anderen zu werfen
manchmal frage ich mich
wer von uns beiden mutiger ist
du, die du offen von deinem Wahnsinn
berichtest
oder ich, der ich mir das alles periodisch
reinziehe
und mich danach oft schlecht fühle
weil ich nicht zu dir fahre
um dich in den Arm zu nehmen
NEIN, tue ich nicht!
dein verpfuschtes Leben ist dein verpfuschtes Leben
lass mich damit zufrieden
die Nudeln sind fad wie immer
ich schiebe den Teller fort
spüre nichts
außer meinem Magen, der vor Hunger knurrt
und dem Herz, das schlägt
wie ein Uhrwerk
unter dem Hemd
tick, tock, tick, tock
soll ich den Brief nochmal rausholen?
NEIN!
Scheißherz, sei endlich still
unsere Geschichte ist tausend Jahre vorbei
zerhackt wie Kaminholz
zu kleinen Spänen
die alle längst verglüht sind
aber irgendwie schon traurig
dass Gefühle verschmoren
wie Tiefkühl-Bolognese auf dem Herd
früher habe ich sie geliebt